Rang und Würde der Unterdrückten im Islam

    Gott, Der Allbarmherzige, weist im heiligen Koran auf den Rang und die Würde der Unterdrückten, der “Mustadh’afin”, hin:    

وَاصْبِرْ نَفْسَكَ مَعَ الَّذِينَ يَدْعُونَ رَبَّهُمْ بِالْغَدَوَاةِ وَالْعَشِيِّ يُرِيدُونَ وَجْهَهُ، وَلاَ تَعْدُ عَيْنَاكَ عَنْهُمْ تُرِيدُ زِينَةَ الْحَيَوةِ الدُّنْيَا، وَلاَ تُطِعْ مَنْ أَغْفَلْنَا قَلْبَهُ عَنْ ذِكْرِنَا وَاتَّبَعَ هَوَاهُ وَكَانَ أَمْرُهُ فُرُطًا

  “Halte dich zu denen, die ihren Herrn am Morgen und am Abend anrufen und Seinen Wohlgefallen wünschen, und lass deine Blicke nicht über sie hinauswandern, indem du nach dem Gepränge des irdischen Lebens begehrst; und gehorche keinem, dessen Herz Wir achtlos machten der Erinnerung an Uns, der seinen bösen Gelüsten folgte und dessen Angelegenheit ausschweifend war.”   Der Punkt, der vielleicht erklärungsbedürftig ist, ist der Sinn des Wortes “Mustadh’afin” (d.h. “die Unterdrückten”).   Wer wird als “Mustadh’af” bezeichnet?   Wird jemand, der sich unter dem Vorwand des Islams und der Religiosität aus dem sozialen Leben zurückzieht, sich dem Schicksal überlässt, sich von Armut und Elend überholen lässt, in der Sprache des Islams “Mustawcaf” genannt?   Sind Menschen, die ihre Rechte nicht verteidigen und Faulheit und Bequemlichkeit vorgezogen haben und dadurch auch schwach und arm geworden sind, anstatt sich kämpferisch für ihre Rechte einzusetzen, tatsächlich als “Mustadh’afin” zu betrachten?   Sind auch jene “mustadh’af”, die mit dem Glaubensbekenntnis zum Islam konvertiert sind und dadurch sogar ihren alltäglichen Unterhalt vom Islam verlangen und ohne geringste Anstrengungen auf ihren Unterhalt (Rizq) warten?   Keiner der oben genannten Fälle stimmt mit dem überein, was die heiligen Verse des Korans uns im Bezug auf die Bezeichnung “Mustadh’af” zu verstehen geben.   Als “Mustadh’afin” werden in der Religionssprache die Menschen bezeichnet, die sich bewusst und ernsthaft für ihre Rechte eingesetzt haben, denen aber dieses Recht durch ungerechtes Verhalten der Machthaber verweigert wird, obwohl ihre Einwände berechtigt sind und der Wahrheit entsprechen. Gott verheißt solchen Menschen, die rechtmäßigen Erben der Erde zu sein. Das ist die schönste Methode, um die Unterdrückten zum Widerstand und zur Standhaftigkeit zu ermutigen, um unermüdlich und selbstbewusst ihre Rechte zu vertreten und sie wieder zu erlangen.   Die Lebensweise der Propheten und der Imame ist ein Beweis dafür, dass es eine äußerst wichtige Pflicht der islamischen Gesellschaften ist, sich um die Unterdrückten zu kümmern.   Imam Ali nennt ein schönes Beispiel dafür, indem er Abu Darr al-Gifari als einen “Mustadh’af” bezeichnet und wie folgt beschreibt:   “Ich hatte einen Bruder im Islam; seine Eigenschaften schienen in meinen Augen sehr groß. In seinen Augen war die Welt sehr klein, sein Herz war frei von Regieren. Auf das, was er nicht finden konnte, hatte er auch keinen Appetit, und mit dem, was er verdiente, war er nicht überschwänglich.   Meistens war er ruhig, und wenn er sprach, war er den anderen überlegen und stillte den Durst der Fragenden. Er war schwach und mustadh’af, und bei der Arbeit brüllte er wie ein Löwe und kroch wie eine Schlange in der Wüste. Bevor er zu Gericht ging, gab er kein Urteil ab und machte niemandem Vorwürfe, ohne seine Gründe gehört zu haben. Er ließ sich keine Krankheit anmerken, außer nach seiner Genesung. Über das, wofür er zuständig war, sprach er, und über das, womit er nichts zu tun hatte, vermied er zu sprechen.Wenn er in einer Diskussion unterlag, akzeptierte er es und wurde ruhig. Er mochte das Zuhören mehr als selber zu reden. Wenn er zwischen zwei Arbeiten zu entscheiden hatte, unterließ er die Arbeit, die mehr mit menschlicher Begierde einherging.Jetzt es ist eure Aufgabe, euch solche Eigenschaften anzueignen; wenn es euch nicht ganz gelingt, so versucht mindestens, Teile davon umzusetzen.”   Eine Überlieferung von Imam as-Sadiq lautet: “Als Jesus – der Friede sei mit ihm – Abschied von seinen Aposteln nahm, versammelte er sie und sprach zu ihnen, dass sie sich um die Schwachen und Unterdrückten zu kümmern haben. Jegliche Milde und sanftes Benehmen gegenüber den Unterdrückern und Tyrannen sollten sie unterlassen.”   Die Würde und der Rang der “Mustawcafin”, wie Abu Darr, Salman, Miqdad und Bilal, sind bei Gott derart erhaben, dass der Prophet hierzu sagte: “Die Unterdrückten sind nicht nur die Erben der Welt sondern auch hochgeschätzt im Jenseits, und sie sind Führer in Gottes Paradies.”   In einer anderen Überlieferung heißt es: “Gott fordert mich auf, die Mustadcafin ins Herz zu schließen.”   Und an anderer Stelle heißt es: “Meine Liebe gehört den Armen.”   Zu Imam Alis ausgeprägten Eigenschaften zählten seine Liebe und seine Brüderlichkeit zu den Unterdrückten, sodass der Prophet zu ihm sagte:   “O Ali, Gott hat dir die Gabe der Liebe zu den Armen und Unterdrückten geschenkt; du hast sie dir zu Brüdern erwählt, und sie haben dich zum Imam erwählt!”     Die Methode des Propheten und seiner Nachkommen   Die Lebensweisen des Propheten und seiner reinen Nachkommen sind die besten Vorbilder dafür, wie wichtig es ist, das Recht der Unterdrückten in der Gesellschaft zu sichern und zu unterstützen. Dies wird im heiligen Koran als eine öffentliche Verantwortung vorgestellt, und die Menschen sind dazu aufgerufen, diese Verantwortung zu übernehmen:    

وَمَا لَكُمْ لاَ تُقَاتِلُونَ فِي سَبِيلِ اللهِ وَالْمُسْتَضْعَفِينَ مِنْ الرِّجَالِ وَالنِّسَاءِ وَالْوِلْدَانِ الَّذِينَ يَقُولُونَ رَبَّنَا أَخْرِجْنَا مِنْ هَذِهِ الْقَرْيَةِ الظَّالِمِ أَهْلُهَا وَاجْعَلْ لَنَا مِنْ لَدُنْكَ وَلِيًّا

  “Und was ist mit euch, dass ihr nicht für Gottes Sache kämpft und für die der Unterdrückten von den Männern und den Frauen und den Kindern, die sprechen: Unser Herr, führe uns heraus aus dieser Stadt, deren Bewohner Unterdrücker sind, und gib uns von Dir einen Beschützer.”   Diesem Vers ist deutlich zu entnehmen, dass Muslim zu sein oder überhaupt ein aufgewecktes Gewissen zu haben und sich dennoch gegenüber Unrecht und Unterdrückung neutral zu verhalten, miteinander nicht zu vereinbaren sind.   In der dritten Ansprache des Buches NahJ al-Balaga sagt Imam Ali in Übereinstimmung mit dem göttlichen Befehl des Korans:   “Hätte Gott von den Wissenden keinen Eid genommen, dass sie beim Anblick eines Unrechtes und der Unterdrückung der Schwachen nicht schweigen dürfen, hätte ich das Kalifat jemandem überlassen, der keinen Anspruch darauf hat.”   Es ist sicherlich schon klar, dass es mit enormen Anstrengungen und Schwierigkeiten verbunden ist, sich für die Rechte der Unterdrückten einzusetzen und solch einer Verantwortung nachzukommen. Der Verlauf der Menschheitsgeschichte zeigt, dass die Unterdrücker und ungerechten Machthaber keine Hindernisse auf ihrem Weg dulden, und sobald sie es spüren, versuchen sie durch verschiedenste List und Tücke, die Hindernisse und ihre Gegner aus dem Weg zu räumen.   Der heilige Koran gibt immer wieder die göttlichen Gesetzmäßigkeiten bekannt. Eine von diesen Gesetzmäßigkeiten ist der Sieg der Unterdrückten durch ihre Willenskraft und ihren starken Glauben über die Unterdrücker. Diesbezüglich lesen wir:    

وَنُرِيدُ أَنْ نَمُنَّ عَلَى الَّذِينَ اسْتُضْعِفُوا فِي الأَرْضِ وَنَجْعَلَهُمْ أَئِمَّةً وَنَجْعَلَهُمُ الْوَارِثِينَ

  “Und wir wollen jenen, die auf der Erde unterdrückt worden sind, Gunst erweisen und sie zu Führern zu machen und sie zu Erben machen.” [NahJ al-Balaga, Weisheit 209]   Und der Gipfel dieser Gesetzmäßigkeit ist die Gründung einer gerechten Regierung durch den erwarteten Imam Mahdi, durch die die Menschheit eine gerechte Welt erleben wird.   Imam Ali enthüllt diese Gesetzmäßigkeiten in einem seiner weisen Aussprüche folgendermaßen:   “Die Welt wird sich wie nach einer Trockenzeit um uns sorgen, wie sich eine Kamelkuh um ihren Nachwuchs sorgt, wenn ihre Milch versiegt ist.”     Unsere Verantwortung gegenüber den Unterdrückten   Betrachten wir die Thematik nun aus der Perspektive der Verantwortung gegenüber den Unterdrückten.   Aus den Überlieferungen geht hervor, dass der Islam die Muslime und Gläubigen zur Festigung ihrer Beziehungen zu den Unterdrückten auffordert und sie auch zu deren praktischen Unterstützung aufruft.   Gott fordert den Propheten Muhammad auf, seine Beziehungen zu den Unterdrückten zu stärken und sich für deren Bedürfnisse einzusetzen, und sich davor zu hüten, den Wohlhabenden und denjenigen, die sich in ihren irdischen Gelüsten gefangen halten, zur Seite zu stehen.   Insbesondere die Wohlhabenden hatten erwartet, dass der Prophet die Unterdrückten ignoriert und sich von ihnen fernhält und dadurch eine Religion für die Wohlhabenden befürwortet und dass sie dadurch sowohl ihr Ansehen in der islamischen Gemeinde bewahren als auch ihre Gelüste und Habgier pflegen können. Hierzu lesen wir im heiligen Koran:    

وَلاَ تَطْرُدِ الَّذِينَ يَدْعُونَ رَبَّهُمْ بِالْغَدَوَاةِ وَالْعَشِيِّ يُرِيدُونَ وَجْهَهُ

  “Und treibe nicht jene fort, die ihren Herrn am Morgen und am Abend anrufen und Seinen Wohlgefallen wünschen.” [Sure al-An'am (6), Vers 52]   Mit der Offenbarung dieses Verses und durch die Vorgehensweise des Propheten wurde die Grenze zwischen Unterdrückten und Unterdrückern gezogen. In einer sehr schönen Auslegung in dem Werk Bihar al-Anwar sagt unser Prophet:   “O Gott, lass mich zu den Bedürftigen gehören, lass mich als Bedürftiger sterben und lass mich mit Bedürftigen im Jenseits zusammenkommen.”   Bei dieser Überlieferung ist mit “bedürftig sein” natürlich nicht “arm und obdachlos sein” gemeint. Obwohl den Armen zu helfen und den Bedürftigen mit allen Mitteln zur Seite zu stehen eine Wohltat darstellt, kann die Armut an sich, wie der Prophet sagt, die Menschen bis zur Religionslosigkeit treiben.     Armut kann zum Unglauben führen   So wird ersichtlich, dass ein Muslim verpflichtet ist, seine potentiellen Kräfte mit richtigen Plänen und gesunden Ansprüchen für ein würdiges und akzeptables irdisches Leben einzusetzen. Wenn man trotz seiner Bemühungen seine rechtmäßigen Erfolge nicht erntet, weil das System der Unterdrücker dies nicht zulässt, ist man zumindest seiner Pflicht nachgegangen, und obwohl man in diesem Fall ein Mustawcaf, ein Unterdrückter, ist, ist man dennoch nicht schwach. Und die Muslime sind verpflichtet, andere zu unterstützen, damit man seine Rechte bekommt.   Nach diesem Gesichtspunkt sind alle Gesandten Gottes mustawcaf, unterdrückt, gewesen, weil ihnen ihre Rechte durch unrechtmäßige Machthaber vorenthalten wurden. Sie hatten mit dem einfachen Volk einen Punkt gemeinsam, nämlich der Kampf gegen Tyrannen und Unterdrücker, und daher waren die Propheten auch immer Auserwählte aus den einfachen Menschen.   Die Propheten beschmutzten niemals ihre heilige Persönlichkeit mit der Neigung zu den üppig Lebenden, sie haben sich nie vor Despoten erniedrigt. Dies im Gegensatz zu unserer Zeit, da unsere heutigen Reformisten vor den Machthabern auf die Knie gehen und aus dieser Stellung heraus ihre Reformen aufbauen wollen.   Die Gesandten Gottes stellten sich nie eine mächtigere Unterstützung vor als die Hilfe von Gott und den Willen des Volkes.   Gottes Gesandte haben immer ihren barmherzigen und gütigen Blick zum einfachen Volk gewandt und ihre zornigen und erbitterten Blicke keinen Moment von den Tyrannen und üppig Lebenden abgewandt.   Manche behaupten, dass die Studien über die islamischen Gesellschaften zeigten, dass diese immer wieder mit Unterdrückung, Armut und verschiedensten Problemen politischer und wirtschaftlicher Art und dergleichen konfrontiert waren und andererseits gerade diese Gruppen von Menschen (d.h. Arme, Unterdrückte) sich viel mehr als die wohlhabenden Schichten der Gesellschaft für den Islam interessierten. Da stellt sich die Frage, welche Beziehung zwischen Islam, Unterdrücktsein und Armut besteht.   Warum wird der Islam immer wieder mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht? Werden nach der islamischen Denkweise Armut und Unterdrückung befürwortet? Ist der islamischen Weltanschauung das Leben in Wohlstand und die aktive Teilnahme in allen Angelegenheiten dieser Welt fremd?   Um eine klare Antwort zu bekommen, muss ein grundlegender Aspekt erwähnt werden: Im Laufe der Geschichte wurde immer wieder der falsche Eindruck erweckt, dass die Religion nicht fähig sei, die Anleitung für das Regieren einer humanen Gesellschaft zu geben, bzw. die Fähigkeit dazu wurde in Frage gestellt. Die Antworten und die Ursache dafür sind jedoch vielmehr in den Anwendungen und Umsetzungen der islamischen Gesetze im praktischen Leben der Muslime begründet.   Wenn hier und da Muslime oder eine islamische Gesellschaft unter wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Problemen leiden, ist dies ein Hinweis darauf, dass dort die islamischen Gesetze nicht in ihrem vollen Umfang angewandt werden. Und weiter dazu: Wer hat garantiert, dass die Menschen trotz ihrer Bemühungen und ehrlicher Arbeit auch gleichwertigen Lohn dafür bekommen?   Es waren sehr viele, deren Rechte im Laufe der Geschichte durch unrechtmäßige Machthaber und Tyrannen verweigert wurden. Aus diesem Grunde ist es im Islam empfohlen, uns in solchen Situationen Hand in Hand für unsere Rechte einzusetzen und uns gegenseitig zu unterstützen.   Die islamische Weltanschauung und die göttlichen Offenbarungen haben immer wieder Entwürfe und Pläne für ein würdiges, sowohl persönliches als auch gesellschaftliches Leben gegeben. Wenn islamische Entwürfe und Pläne richtig verstanden und umgesetzt werden, werden die islamischen Gesellschaften und die Muslime eine Welt weit entfernt von Armut und Unterdruckung genießen, und es ist selbstverständlich, dass so entstandener Wohlstand den Menschen nicht zu Unzufriedenheit und Grausamkeit den Mitmenschen gegenüber verleitet, sondern es ist ein fruchtbarer Boden, der durch Selbsterziehung und Berücksichtigung der Rechte der Mitmenschen und Befolgung der göttlichen Gebote und Verbote zustande gekommen ist.   Dieser Wohlstand wird als Werkzeug zur seelischen Vervollkommnung und zur Suche nach Gottes Nähe benutzt. Der Mensch soll darauf achten, dass seine Beziehungen der Welt gegenüber nicht so gestaltet werden, als würde er ewig leben und sich diese Welt als einen sicheren Ort und ein ruhiges Ufer vorstellen, wonach er lange gesucht hatte.   Der edle Imam Ali sagte dazu: “Wer sein Herz an irdischen Reichtum, Macht und Wohlstand verloren hat, wird nicht an den rechten Weg denken. Und sie sind diejenigen, die die Religion auch zu ihrem irdischen Zwecke haben wollen.”