Die philosophische Überprüfbarkeit des Offenbarungsgehalts religiöser Erfahrung (2)
Die philosophische Überprüfbarkeit des Offenbarungsgehalts religiöser Erfahrung (2)
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Muhammad Iqbal
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Leben als freie Aktivität Zentrum der Unbestimmtheit Die Bestimmung eines Dinges ist also kein unnachgiebiges Faktum, das wie ein Zuchtmeister von außen arbeitet: es ist die innere Reichweite eines Dinges, seine realisierbaren Möglichkeiten, die in der Tiefe seines Wesens liegen und sich ohne jedes Gefühl eines äußeren Zwanges der Reihe nach verwirklichen. Die organische Ganzheit der Dauer bedeutet nicht, dass selbständige Ereignisse sozusagen im Mutterleib der Realität liegen und wie Sandkörner im Stundenglas herausfallen. Wenn die Zeit real ist, und nicht eine bloße Wiederholung homogener Momente, die bewusstes Erbe zu einer Illusion machen, dann ist jeder Moment im Leben der Realität ursprünglich und gebiert absolut Neues und Unvorhergesehenes. „Jeden Tag zeigt Er sich in einer neuen Sache“, heißt es im Qur’an. In realer Zeit zu existieren heißt, nicht durch die Fesseln der ablaufenden Zeit gebunden zu sein, sondern sie von einem Moment zum anderen zu schaffen und in der Schöpfung absolut frei und ursprünglich zu sein. Tatsächlich ist alle schöpferische Aktivität freie Aktivität. Schöpfung ist das Gegenteil von Wiederholung, die mechanisches Handeln kennzeichnet. Darum ist es unmöglich, die schöpferische Aktivität des Lebens in mechanischen Begriffen zu erklären. Die Wissenschaft strebt danach, Einförmigkeiten der Erfahrung, d. h. die Gesetzmäßigkeiten der mechanischen Wiederholung, festzuhalten. Das Leben mit seinem intensiven Gefühl der Spontaneität bildet ein Zentrum der Unbestimmtheit und fällt damit aus dem Bereich der Notwendigkeit heraus. Deshalb kann die Wissenschaft Leben nicht begreifen. Der Biologe, der eine mechanische Erklärung für das Leben sucht, wird dazu veranlasst, weil er seine Untersuchungen auf die niedrigeren Formen des Lebens beschränkt, deren Verhaltensweisen Ähnlichkeiten mit mechanischen Handlungen erkennen lassen. Studiert er das Leben so. wie es sich in ihm selbst manifestiert, d. h. seinen eigenen Geist, wie er frei wählt, ablehnt, nachdenkt, die Vergangenheit und Gegenwart überschaut und sich dynamisch die Zukunft vorstellt, wird er sicherlich von der Unzulänglichkeit seiner mechanischen Konzeptionen überzeugt sein. Aus menschlicher Sicht bedeutet Leben Veränderung, und Veränderung ist im wesentlichen Unvollkommenheit, die letztendliche Realität jedoch ist spiritueller Natur, in der der Mensch durch Hingabe und Gebet Erfüllung findet. Analog zu unserer bewussten Erfahrung ist also das Universum eine freie schöpferische Bewegung. Aber wie können wir uns eine Bewegung ohne ein konkretes, sich bewegendes Ding vorstellen? Die Antwort lau-tet, dass die Vorstellung von einem „Ding“ abgeleitet ist. Wir können „Dinge“ aus der Bewegung herleiten; wir können aber nicht von unbeweglichen Dingen Bewegung herleiten. Wenn wir beispielsweise annehmen, materielle Atome wie die des Demokrit seien die ursprüngliche Realität, dann müssen wir ihnen Bewegung von außen als etwas Wesen-fremdes an sie herantragen. Wenn wir hingegen Bewegung als ursprünglich ansehen, können statische Dinge daraus hergeleitet werden. In der Tat hat die Physik alle Dinge auf Bewegung zurückgeführt. Die wesentliche Natur des Atoms in der modernen Wissenschaft ist elektrische La-dung und nicht etwas elektrisch geladenes. Abgesehen davon sind Dinge in der unmittelbaren Erfahrung nicht als Dinge gegeben, die bereits bestimmte Konturen haben; denn die unmittelbare Erfahrung ist eine Kontinuität ohne Unterscheidungen darin. Was wir als Dinge bezeichnen, sind Ereignisse in der Kontinuität der Natur, die das Denken räumlich aufteilt und damit zu Handlungszwecken als gegenseitig isoliert betrachtet. Das Universum, das uns als eine Ansammlung von Dingen erscheint, ist nicht ein solider Stoff, der den leeren Raum ausfüllt. Es ist kein Ding, sondern eine Handlung. Nach Bergson ist die Natur des Denkens periodisch; es kann sich nicht mit Bewegung befassen, es sei denn, dass es sie als eine Serie stationärer Punkte auffasst. Die Wirksamkeit des Denkens, das mit statischen Konzeptionen arbeitet, lässt daher das, was seiner Natur nach im wesentlichen dynamisch ist, als Serie von Unbeweglichkeiten erscheinen. Die Koexistenz und Abfolge dieser unbeweglichen Dinge ist der Ursprung dessen, was wir Raum und Zeit nennen. Nach Bergson ist die Realität also eine freie, unberechenbare, schöp-ferische, vitale Triebkraft von der Art des Willens, die das Denken aufspaltet und als Vielzahl von „Dingen“ ansieht. Eine vollständige kritische Betrachtung dieser Ansicht kann hier nicht durchgeführt werden. Es genügt zu sagen, das Bergsons Vitalismus in einem unüberwindlichen Dua-lismus von Wollen und Denken endet. Das liegt in Wirklichkeit in der Teilansicht der Intelligenz begründet, die er hegt. Seiner Ansicht nach ist die Intelligenz eine die Wirklichkeit in Räume teilende Aktivität; sie ist einzig und allein der Materie angepasst und hat nur mechanische Kategorien zu ihrer Verfügung. Wie ich jedoch schon in meinem ersten Vortrag herausgestellt habe, hat das Denken auch noch eine tiefere Bewegung. Während es die Realität in statische Fragmente zu zerbrechen scheint, seine wirkliche Funktion darin, die Erfahrungselemente durch Verwendung von Kategorien, die zu den verschiedenen Ebenen passen, die die Erfahrung bietet, zu einer Synthese zusammenfügen. Es ist ebenso organisch wie das Leben. Die Bewegung des Lebens als organisches Wachstum beinhaltet eine fortschreitende Synthese seiner verschiedenen Stadien. Ohne diese Synthese würde es aufhören, organisches Wachstum zu sein. Es ist durch Zielsetzung bestimmt, und das Vorhandensein von Zielsetzungen bedeutet, dass es von Intelligenz durchdrungen ist. Auch ist ohne das Vorhandensein von Zielsetzungen eine Aktivität der Intelligenz möglich. Bei der bewussten Erfahrung durchdringen Leben und Denken einander. Sie bilden eine Einheit. Das Denken ist darum in seinem wah-ren Wesen mit dem Leben identisch. Nach Bergsons Ansicht wiederum ist das Vorwärtsstürmen des Lebensimpulses in seiner schöpferischen Freiheit unerleuchtet vom Licht eines unmittelbaren oder entfernten Zweckes. Er strebt kein Ergebnis an; er ist völlig willkürlich, richtungslos, chaotisch und in seinem Verhalten unberechenbar. Hauptsächlich an die-ser Stelle lässt Bergsons Analyse unserer bewussten Erfahrung ihre Unzulänglichkeit erkennen. Er betrachtet die bewusste Erfahrung als die Vergangenheit, die die Gegenwart begleitet und in ihr handelt. Er ignoriert, dass die Einheit des Bewusstseins auch einen vorausschauenden Aspekt hat. Das Leben ist nur eine Abfolge von aufmerksamen Handlungen, und eine aufmerksame Handlung ist ohne Bezugnahme auf einen Zweck, sei er bewusst oder unbewusst, unerklärlich. Selbst unsere Wahrnehmungsakte sind von unseren unmittelbaren Interessen und unseren Zwecken bestimmt. Der persische Dichter Urfi hat diesen Aspekt der menschlichen Wahrnehmung schön zum Ausdruck gebracht. Er sagt: „Wenn dein Herz von der Fata Morgana nicht getäuscht wird, dann sei nicht stolz auf deine Verstandesschärfe; denn deine Freiheit von dieser optischen Illusion beruht auf deinem unvollkommenen Durst.“ Der Dichter will damit sagen, dass der Wüstensand dir sehr wohl den Eindruck gegeben hätte, ein See zu sein, wenn du nur ein starkes Bedürfnis nach Wasser gehabt hättest. Deine Freiheit von dieser Illusion ist le-diglich auf das Fehlen eines intensiven Wunsches nach Wasser zurückzuführen. Du hast die Sache so wahrgenommen, wie sie ist, weil du nicht daran interessiert warst, sie so wahrzunehmen, wie sie nicht ist. Auf diese Weise bilden Ziele und Zwecke, ob sie als bewusste oder unbewusste Tendenzen existieren, das Gewebe der bewussten Erfahrung, und der Zweckbegriff ist unverständlich, es sei denn in Bezug auf die Zukunft; die Vergangenheit lebt zweifellos in der Gegenwart fort und wirkt in ihr, aber dieses Wirken der Vergangenheit in der Zukunft ist nicht das gesamte Bewusstsein. Das Element des Zweckes enthüllt eine Art Vorausschau im Bewusstsein, Zwecke färben nicht nur unsere gegenwärtigen Bewusstseinszustände, sondern offenbaren auch ihre zukünftige Richtung. In der Tat bilden sie den Vorwärtsschub in unserem Leben und sehen damit gewissermaßen die noch kommenden Zustände voraus und beeinflussen sie. Von einem Ziel bestimmt zu sein, bedeutet, von etwas bestimmt zu sein, das sein sollte. Auf diese Weise wirken sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft im gegenwärtigen Bewusstseinszustand, und die Zukunft ist nicht völlig unbestimmt, wie Bergsons Analyse unserer bewussten Erfahrung zeigt. Ein Zustand aufmerksamen Bewusstseins umfasst sowohl das Gedächtnis als auch die Phantasie als wirksame Faktoren. Analog zu unserer bewussten Erfahrung ist die Rea-lität somit kein blinder Lebensimpuls, von Ideen völlig unerleuchtet. Ihre Natur ist durch und durch teleologisch. Teleologische Natur der Realität Bergson lehnt allerdings den teleologischen Charakter der Realität mit der Begründung ab, Teleologie mache die Zeit irreal. Seiner Ansicht nach müssen „die Pforten der Zukunft für die Realität weit offen stehen.“ An-dernfalls ist sie nicht frei und schöpferisch. Wenn Teleologie die Verwirklichung eines Plans im Hinblick auf ein vorbestimmtes Ziel bedeutet, wird dadurch zweifellos die Zeit irreal. Das Universum würde damit zu einer bloßen zeitlichen Reproduktion eines präexistenten ewigen Schemas oder einer Struktur reduziert, in der individuelle Ereignisse bereits ihren angemessenen Platz gefunden haben und sozusagen warten, bis sie an der Reihe sind, in den zeitlichen Bereich der Geschichte einzutreten. Alles ist bereits irgendwo in der Ewigkeit vorgegeben; die zeitliche Ordnung der Ereignisse ist nichts weiter als eine bloße Eingrenzung der ewi-gen Form. Eine solche Ansicht ist kaum von dem Mechanismus zu unterscheiden, den wir bereits abgelehnt haben. In der Tat ist er eine Art verschleierter Materialismus, in dem das Fatum oder Schicksal die Stelle eines steifen Determinismus einnimmt und keinen Spielraum für menschliche oder sogar göttliche Freiheit lässt. Als Prozess betrachtet, der ein vorherbestimmtes Ziel verwirklicht, ist die Welt nicht eine Welt freier, verantwortlicher moralischer Handelnder; sie ist lediglich eine Bühne, auf der Marionetten durch eine Art Zug von hinten in Bewegung gebracht werden. Es gibt jedoch noch eine andere Bedeutung von Teleologie. Aus unserer bewussten Erfahrung haben wir gesehen, dass Leben bedeutet, Ziele und Zwecke zu formen und zu verändern und sich von ihnen leiten zu lassen. Geistiges Leben ist in dem Sinne teleologisch, dass es /war kein weit entferntes Ziel gibt, auf das wir uns zubewegen, wohl aber eine fortschreitende Herausbildung neuer Ziele, Zwecke und idealer Wertmaßstäbe, so wie der Lebensprozess wächst und sich ausdehnt. Wir wer-den, indem wir aufhören zu sein, was wir sind. Das Leben ist ein Hindurchgehen durch eine Serie von Toden. Es gibt jedoch ein System in der Kontinuität dieses Hindurchgehens. Seine verschiedenen Stadien sind trotz der scheinbar abrupten Veränderungen in unserer Einschätzung der Dinge organisch aufeinander bezogen. Die Lebensgeschichte eines Indi-viduums ist im ganzen eine Einheit und keine bloße Serie schlecht aneinander angepasster Ereignisse. Der Weltprozess oder die Bewegung des Universums in der Zeit ist sicherlich ohne Zweck, wenn wir unter Zweck ein vorgesehenes Endziel verstehen – eine weit entfernt festgelegte Bestimmung, auf die sich die gesamte Schöpfung zubewegt. Dem Weltprozess in diesem Sinne einen Zweck beizulegen würde bedeuten, ihn seiner Ursprünglichkeit und seines schöpferischen Charakters zu berauben. Seine Ziele sind Abschlüsse eines Werdeganges; sie sind kommende und nicht notwendigerweise vorausgeplante Ziele. Einen Zeitprozess kann man sich nicht als bereits gezogene Linie vorstellen. Er ist eine Linie, die gezogen wird – eine Verwirklichung noch offener Möglichkeiten. Er ist nur in dem Sinne zweckgerichtet, dass er in seinem Charakter selektiv ist und sich selbst zu einer Art gegenwärtiger Erfüllung bringt, indem er die Vergangenheit aktiv bewahrt und ergänzt. Nach mei-nem Verständnis ist nichts der Anschauung des Qur’an fremder als die Idee, das Universum sei die zeitliche Ausführung eines im Voraus gefassten Planes. Wie ich bereits herausgestellt habe, neigt dem Qur’an zufolge das Universum zur Zunahme. Es ist ein wachsendes Universum und kein fertiges Produkt, das vor vielen Zeitaltern aus der Hand seines Schöpfers hervorgegangen ist und nun als eine tote Masse von Materie im Raum dahingestreckt liegt, an dem die Zeit nichts ändert und dem sie folglich nichts bedeutet. Das Selbst – Existenz in reiner Dauer Wir sind jetzt, wie ich hoffe, in der Lage, die Bedeutung des Verses zu erkennen: „Und Er ist es, der die Nacht und den Tag gemacht hat, einander folgend, für denjenigen, der eingedenk oder dankbar sein will.“ Eine kritische Interpretation der Zeitabfolge, wie sie sich in uns selbst offenbart, hat uns zu einem Begriff der letztendlichen Realität als reine Dauer geführt, in der Denken, Leben und Zweck einander durchdringen, um eine organische Einheit zu bilden. Diese Einheit können wir uns nur als die Einheit eines Selbst vorstellen – eines allumfassenden konkreten Selbst – die letztendliche Quelle alles individuellen Lebens und Denkens. Ich erlaube mir zu denken, dass Bergsons Irrtum darin besteht, dass er die reine Zeit als vorrangig vor dem Selbst ansieht, dem allein reine Dauer zugeschrieben werden kann. Weder reiner Raum noch reine Zeit kann die Vielfalt von Objekten und Ereignissen zusammenhalten. Nur der empfangende Akt eines bleibenden Selbst kann die Vielfalt der Dauer aufgesplittert in eine Unendlichkeit von Momenten aufgreifen und zur organischen Ganzheit einer Synthese zusammenfügen. In reiner Dauer zu existieren bedeutet, ein Selbst zu sein, und ein Selbst zu sein bedeutet, sagen zu können: „Ich bin.“ Grad der Intuition des „Ich bin“ bestimmt den Standort eines Dinges in der Werteskala des Daseins. Auch wir sagen: „Ich bin“. Aber unser „Ich bin“ ist abhängig und entsteht aus der Verschiedenheit von Selbst und Nicht-Selbst. Das letztendliche Selbst kann, mit den Worten des Qur’an, „ohne alle Welten auskommen.“ Für ihn stellt sich das Nicht-Selbst nicht als ein Ihn konfrontierendes „Anderes“ dar, sonst geschähe dieses wie bei unserem endlichen Selbst in räumlicher Relation zu dem gegenüberstehenden „Anderen.“ Was wir als Natur oder Nicht-Selbst bezeichnen, ist nur ein vorüberfließender Moment im Leben Got-tes. Sein „Ich bin“ ist unabhängig, elementar, absolut. Von einem solchen Selbst können wir uns unmöglich eine angemessene Vorstellung machen. Wie der Qur’an sagt: „Nichts ist Ihm gleich, und Er ist der Hörende, der Sehende.“ Nun ist aber ein Selbst undenkbar ohne einen Charakter, d. h. eine uniforme Verhaltensweise. Wie wir gesehen haben, ist die Natur nicht eine reine Materialität, die eine Leere ausfüllt. Sie ist eine Struktur von Ereignissen, eine systematische Verhaltensweise, und als solche or-ganisch mit dem letztendlichen Selbst verbunden. Die Natur verhält sich zum göttlichen Selbst wie der Charakter zum menschlichen. In der bilderreichen Sprache des Qur’an ist sie Allahs Gewohnheit. Vom menschlichen Standpunkt aus ist sie eine Interpretation, die wir in unserer gegenwärtigen Situation der schöpferischen Aktivität des Absoluten Ego beilegen. Als bestimmter Moment in seiner Vorwärtsbewegung ist sie begrenzt, aber da das Selbst, dem sie organisch verbunden ist, schöpferisch ist, neigt sie dazu, zuzunehmen, und ist folglich in dem Sinne grenzenlos, dass keine Begrenzung ihrer Erweiterung endgültig ist. Ihre Grenzenlosigkeit ist potentiell, nicht tatsächlich. Die Natur muss also als lebender, stets wachsender Organismus verstanden werden, dessen Wachstum keine endgültigen äußeren Grenzen hat. Ihre einzige Begrenzung ist eine innerliche, d. h. das immanente Selbst, das das Ganze belebt und erhält. Wie der Qur’an sagt: „Und wahrlich, zu deinem Herrn ist die Rückkehr.“ Auf diese Weise gibt der Standpunkt, den wir hier einnehmen, der Physik einen neuen spirituellen Sinn. Die Kenntnis der Natur ist die Kenntnis von Gottes Verhalten. In unserer Naturbeobachtung suchen wir im Grunde genommen eine Art Nähe zu dem Absoluten Ego, und dies ist nur eine andere Form des Gottesdienstes. Zeit: ein wesentliches Element der Realität In der obigen Erörterung wird die Zeit als wesentliches Element in der letztendlichen Realität angesehen. Als nächstes müssen wir die Argumentation des verstorbenen Doktor McTaggart in Betracht ziehen, die sich auf die Irrealität der Zeit bezieht. Nach Dr. McTaggart ist Zeit irreal, weil jedes Ereignis vergangen, gegenwärtig und zukünftig ist. Der Tod der Königin Anne z. B. liegt für uns in der Vergangenheit; für ihre Zeitgenossen traf er in der Gegenwart ein, und für William III. lag er in der Zukunft. Auf diese Weise verbindet Annes Tod Merkmale, die miteinander unvereinbar sind. Offensichtlich baut die Argumentation auf der Annahme auf, das Wesen der Zeit als Abfolge sei endgültig. Wenn wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als für die Zeit wesentlich betrachten, dann stellen wir uns die Zeit als eine gerade Linie vor, die wir teilweise durchreist und zurückgelassen haben, während ein Teil noch undurchquert vor uns liegt. Dies bedeutet, die Zeit nicht als lebendiges, kreatives Moment zu sehen, sondern als statisches Absolutes, das die geordnete Vielfalt voll ausgeformter kosmischer Ereignisse serienmäßig wie Bilder eines Films dem äußeren Betrachter vorhält. Wir können in der Tat sagen, dass der Tod der Königin Anne für William III in der Zukunft lag, wenn dieses Ereignis so betrachtet wird, dass es bereits voll ausgeformt war und in der Zukunft lag und darauf wartete, geschehen zu können. Aber ein zukünftiges Ereignis kann, wie Broad ganz richtig betont, nicht als Ereignis charakterisiert werden. Vor Annes Tod existierte das Ereignis ihres Todes überhaupt noch nicht. Zu Annes Lebzeiten existierte es nur als eine unverwirklichte Möglichkeit in der Natur der Realität, die sie erst dann als Ereignis beinhaltete, als es im Verlauf seines Werdens den Punkt des tatsächlichen Geschehens dieses Ereignisses erreichte. Die Antwort auf Dr. McTaggarts Argument ist, dass die Zukunft nur als offene Möglichkeit existiert und nicht als Wirklichkeit. Man kann auch nicht sagen, ein Ereignis verbinde unvereinbare Merkmale, wenn es sowohl als vergangen als auch als gegenwärtig bezeichnet wird. Wenn ein Ereignis X geschieht, tritt es in eine unveränderliche Beziehung zu allen anderen davor geschehenen Ereignissen. Diese Beziehungen sind überhaupt nicht von den Beziehungen von X zu anderen Ereignissen betroffen, die im Laufe des Werdens der Realität nach ihm geschehen. Kei-ne wahre oder falsche Aussage über diese Beziehungen wird jemals unwahr oder wahr. Daher besteht keine logische Schwierigkeit, ein Ereignis sowohl als vergangen als auch als gegenwärtig zu betrachten. Es muss jedoch zugegeben werden, dass dieser Punkt nicht ohne Schwierigkeiten ist und viel Weiterdenken erfordert. Es ist nicht leicht, das Geheimnis der Zeit zu lösen. Augustinus’ tiefgreifende Worte sind heute ebenso wahr wie zu der Zeit, als sie ausgesprochen wurden: „Wenn niemand mich nach der Zeit fragt, kenne ich sie: müsste ich sie einem Fragesteller erklären, dann würde ich sie nicht kennen.“ Persönlich neige ich zu der Vorstellung, dass die Zeit ein wesentliches Element der Realität ist. Aber wirkliche Zeit ist nicht der Zeitablauf, für den die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wesentlich ist; sie ist die reine Dauer, die durch das Denken pulverisiert wurde – eine Art Vorrichtung, durch die die Realität ihre unaufhörliche schöpferische Aktivität quantitativer Messung aussetzt. In diesem Sinne sagt der Qur’an: „Sein ist der Wechsel von Tag und Nacht.“ Die letzte Realität: ein vernunftgeleitetes schöpferisches Leben Aber hier werden Sie wahrscheinlich fragen: „Kann von dem letztendlichen Ego Veränderung ausgesagt werden?“ Wir als Menschen sind funktionell auf einen unabhängigen Weltprozess bezogen. Unsere Le-bensbedingungen sind hauptsächlich äußerlich zu uns selbst. Die einzige uns bekannte Art des Lebens ist Begehren, Streben, Versagen oder Erreichen – ein ständiger Wechsel von einer Situation zur anderen. Von unserem Standpunkt aus gesehen ist Leben Veränderung und Veränderung ist im wesentlichen Unvollkommenheit. Gleichzeitig können wir, da unsere bewusste Erfahrung nur Ausgangspunkt für alles Wissen ist, nicht die Begrenzungen vermeiden, die mit der Interpretation der Tatsachen im Lich-te unserer eigenen inneren Erfahrung verbunden sind. Eine anthropomorphe Vorstellung ist beim Begreifen des Lebens besonders unvermeidlich, denn das Leben kann nur von innen her begriffen werden. Wie der Dichter Nasir Ali von Sirhind sich vorstellt, spricht der Götze zum Brahmanen: „Du hast mich nach deinem eigenen Bild gemacht! Was hast du überhaupt jenseits deiner selbst gesehen?“ Aus Furcht davor, göttliches Leben als Abbild menschlichen Lebens aufzufassen, hat der spanische muslimische Theologe Ibn Hazm gezögert, Gott Leben zuzuschreiben, und treuherzig vorgeschlagen, Gott als lebendig zu bezeichnen, nicht weil Er im Sinne unserer Lebenserfahrung lebendig ist, sondern nur deshalb, weil Er im Qur’an so bezeichnet wird. Indem er sich auf die Oberfläche unserer bewussten Erfahrung beschränkt, und ihre tieferen Phasen ignoriert hat, muss Ibn Hazm Leben als serienhafte Veränderung aufgefasst haben, als Abfolge von Haltungen gegenüber einer hinderlichen Umgebung. Serienhafte Veränderung ist offensichtlich ein Kennzeichen der Unvollkommenheit; und wenn wir uns auf diese Auffassung von Veränderung beschränken, wird die Schwierigkeit, göttliche Vollkommenheit mit göttlichem Leben zu vereinbaren, unüberwindlich. Ibn Hazm muss das Gefühl gehabt haben, dass Gottes Vollkommenheit nur auf Kosten Seines Lebens bewahrt werden kann. Es gibt jedoch einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit. Das Absolute Ego ist, wie wir gesehen haben, die gesamte Realität. Er befindet sich nicht in einer solchen Position, aus der Er ein fremdes Universum perspektivisch betrachten müsste; folglich sind die Phasen Seines Lebens völlig von innen her bestimmt. Darum ist Veränderung im Sinne einer Bewegung von einem unvollkommenen zu einem relativ vollkommenen Zustand oder umgekehrt offensichtlich für sein Leben nicht zutreffend. Aber Veränderung in diesem Sinne ist nicht die einzige mögliche Form des Lebens. Eine tiefere Einsicht in unsere bewusste Erfahrung zeigt, dass es hinter dem Anschein periodischer Dauer noch wirkliche Dauer gibt. Das Letztendliche Ego existiert in reiner Dauer, worin Veränderung aufhört, eine Folge verschiedener Haltungen zu sein und offenbart seinen wahren Charakter als kontinuierliche Schöpfung, „unberührt von Überdruss “und „weder von Schlummer noch vom Schlaf ergreifbar.“ Sich das Letztendliche Ego als unveränderlich in diesem Sinne von Veränderung vorzustellen würde bedeuten, sich Ihn als völlige Inaktivität vorzustellen, eine motivlose, stagnierende Neutralität, ein absolutes Nichts. Für das Schöpferische Selbst kann Veränderung nicht Unvollkommenheit bedeuten. Die Vollkommenheit des Schöpferischen Selbst besteht nicht in einer mechanisch vorgestellten Unbeweglichkeit, wie Aristoteles vielleicht Ibn Hazm veranlasst haben mag zu denken. Sie besteht in der wei-teren Basis Seiner schöpferischen Aktivität und dem unendlichen Spektrum Seiner schöpferischen Vision. Gottes Leben ist Selbstoffenbarung, nicht das Anstreben eines zu erreichenden Ideals. Das „Noch nicht“ des Menschen bedeutet Streben und kann Versagen bedeuten; das „Noch nicht“ Gottes bedeutet unfehlbare Verwirklichung der unendlichen schöpferischen Möglichkeiten seines Wesens, das während des gesamten Prozesses seine Ganzheit beibehält: „In der endlosen Selbstwiederholung fließt immer dasselbe. Myriaden von Bogen springen, treffen sich, Halten den mächtigen Rahmen in Ruhe. Von allen Dingen strömt Liebe des Lebens, vom größten Stern und vom geringsten Erdenkloß. Alles Drängen, alles Streben ist ewiger Friede in Gott.“ (Goethe) So bringt uns eine umfassende philosophische Kritik aller Erfahrungstatsachen von ihrer effektiven wie ihrer empfänglichen Seite zu der Schlussfolgerung, dass die letztendliche Realität ein vernunftgeleitetes schöpferisches Leben ist. Dieses Leben als ein Ego zu interpretieren bedeutet nicht, Gott nach dem Bilde des Menschen zu schaffen. Es bedeutet lediglich, die einfache Erfahrungstatsache zu akzeptieren, dass das Leben kein formloser Fluss ist, sondern ein organisierendes Prinzip der Einheit, eine synthetische Aktivität, die die auseinanderstrebenden Veranlagungen des lebenden Organismus zu einem konstruktiven Zweck zusammenhält und fokalisiert. Die Denkoperation, die wesentlich symbolischer Art ist, verschleiert das wahre Wesen des Lebens und kann es sich nur als eine Art universalen Strom vorstellen, der alle Dinge durchströmt. Das Ergebnis einer intellektuellen Betrachtung des Lebens ist darum notwendigerweise pantheistisch. Wir kennen jedoch aus erster Hand den empfänglichen Aspekt des Lebens von innen. Die Intuition offenbart Leben als zentralisierendes Ego. Dieses Wissen, wie unvollkommen es als Ausgangspunkt auch sein mag, ist eine direkte Offenbarung des letztendlichen Wesens der Realität. Auf diese Weise rechtfertigen die Erfahrungstatsachen die Schlussfolgerung, dass das letztendliche Wesen der Realität spirituell ist und als ein Ego aufgefasst werden muss. Aber die Sehnsucht der Religion fliegt höher als die der Philosophie. Die Philosophie ist eine intellektuelle Betrachtung der Dinge und geht als solche nicht über eine Konzeption hinaus, die die ganze reiche Vielfalt der Er-fahrung zu einem System reduziert. Sie sieht die Realität sozusagen aus der Entfernung. Die Religion sucht engeren Kontakt mit der Realität. Das ist eine Theorie; das andere ist lebende Erfahrung, Assoziation, Intimität. Um diese Intimität zu erlangen, muss das Denken über sich selbst hinauswachsen und in einer Geisteshaltung Erfüllung finden, die die Religion als Gebet bezeichnet – eines der letzten Worte auf den Lippen des Propheten des Islams. Quelle: © Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V. Dialog Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung Jahrgang 1 • Heft 1 • 1. Halbjahr 2002.
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