Die philosophische Überprüfbarkeit des Offenbarungsgehalts religiöser Erfahrung (Teil 1)
Die philosophische Überprüfbarkeit des Offenbarungsgehalts religiöser Erfahrung (Teil 1)
Author :
Muhammad Iqbal
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Die Wissenschaft, die von Natur aus aufteilend ist und somit die Realität nicht in ihrer Gesamtheit darstellen kann, kann Existenz, die durch schöpferische Aktivität gekennzeichnet ist, nicht in mechanischen Begriffen erklären und somit auch nicht begreifen, denn das Leben unterliegt nicht den Gesetzmäßigkeiten der mechanischen Wiederholung, die die Wissenschaft als Einförmigkeiten der Erfahrung festhalten möchte. Man kann sich das Bewusstsein als Ableitung vom Leben vorstellen. Seine Funktion besteht darin, einen Lichtpunkt zur Verfügung zu stellen, der das Vorwärtsstürmen des Lebens erleuchten soll. Es ist ein Fall von Spannung, ein Zustand der Konzentration auf sich selbst, durch den es dem Leben gelingt, alle Erinnerungen und Assoziationen auszuschließen, die für eine gegenwärtige Handlung belanglos sind. Es hat keine klar definierten Grenzen; es zieht sich zusammen und erweitert sich je nach den Erfordernissen der Situation. Es als Epiphänomen der Prozesse der Materie zu bezeichnen würde bedeuten, es als unabhängige Aktivität zu leugnen, und es als unabhängige Aktivität zu leugnen würde bedeuten, die Gültigkeit alles Wissens zu leugnen, das ja nur ein systematisierter Ausdruck des Bewusstseins ist. Das Bewusstsein ist also eine Spielart des rein spirituellen Lebensprinzips, das keine Substanz ist, sondern ein organisierendes Prinzip, eine spezifische Verhaltensweise, die sich wesentlich vom Verhalten einer von außen gesteuerten Maschine unterscheidet. Da wir uns jedoch keine rein spirituelle Energie vorstellen können außer in Verbindung mit einer definitiven Kombination wahrnehmbarer Elemente, durch die sie sich offenbart, neigen wir dazu, diese Kombination für den letztendlichen Grund spiritueller Energie zu halten. Die Entdeckungen Newtons auf dem Gebiet der Materie und die Darwins im Bereich der Naturgeschichte bringen einen Mechanismus zum Vorschein. Man glaubte, alle Probleme seien in Wirklichkeit physikalische Probleme. Energie und Atome mit der Fähigkeit zur Selbsterhaltung in sich könnten alles, einschließlich Leben, Denken, Willen und Gefühl erklären. Die Konzeption des Mechanismus – eine rein physikalische Konzeption – erhob den Anspruch, die allumfassende Erklärung der Natur zu sein. Und der Kampf für und ge-gen den Mechanismus wird im Bereich der Biologie noch immer mit aller Schärfe ausgefochten. Die Frage ist also die, ob der Übergang zur Realität durch die Enthüllungen der sinnlichen Wahrnehmung notwendigerweise zu einer Sicht der Realität führt, die der Sichtweise der Religion von ihrem letztlichen Charakter wesentlich entgegengesetzt ist. Hat sich die Naturwissenschaft endgültig dem Materialismus verschrieben? Es besteht kein Zweifel daran, dass die Theorien der Wissenschaft zulässiges Wissen darstellen, denn sie sind verifizierbar und ermöglichen uns, die Naturereignisse vorauszusagen und zu kontrollieren. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass das, was als Wissenschaft bezeichnet wird, keine einzige systematische Sichtweise der Realität ist. Es ist eine Masse von Teilansichten der Realität – Fragmente einer Gesamterfahrung, die nicht zusammenzupassen scheinen. Die Naturwissenschaft befasst sich mit der Materie, mit dem Leben und mit dem Geist; aber in dem Augenblick, in dem man die Frage stellt, wie Materie, Leben und Geist aufeinander bezogen sind, fängt man an, den abschnittsweisen Charakter der Wissenschaften zu sehen, die sich mit ihnen befassen, und die Unfähigkeit dieser einzelnen Wissenschaften, eine vollständige Antwort auf diese Frage zu finden. In der Tat sind die verschiedenen Naturwissenschaften wie ebenso viele Geier, die über die Leiche der Natur herfallen und mit je einem Stück ihres Fleisches davonlaufen. Als Objekt der Wissenschaft ist die Natur eine höchst künstliche Angelegenheit, und diese Künstlichkeit ist das Ergebnis jenes selektiven Prozesses, dem die Wissenschaft sich im Interesse der Präzision unterwerfen muss. Kann die selektive Naturwissenschaft eine Gesamtansicht der Realität liefern? In dem Augenblick, wo man das Objekt der Wissenschaft der menschlichen Gesamterfahrung aussetzt, fängt es an, einen ganz anderen Charakter zu enthüllen. Auf diese Weise hat die Religion, die die Gesamtheit der Realität fordert und deswegen eine zentrale Stellung in jeglicher Synthese aller Daten menschlicher Erfahrung einnehmen muss, keinen Grund, Teilansichten der Realität zu fürchten. Die Naturwissenschaft ist von Natur aus aufteilend. Wenn sie ihrem eigenen Wesen und ihrer Funktion treu bleibt, kann sie ihre Theorie nicht als eine Gesamtansicht der Realität hinstellen. Die Konzepte; die wir bei der Anordnung von Wissen benutzen, sind daher aufteilender Art, und ihre Anwendung geschieht entsprechend der Erfahrungsebene, auf die sie angewendet werden. Die Vorstellung von „Ursache“ beispielsweise, deren wesentliches Merkmal darin besteht, der Wirkung voranzugehen, steht in Beziehung zu der Thematik der Physik, die sich mit einer speziellen Art von Aktivität beschäftigt, und zwar unter Ausschluss anderer Formen von Aktivität, die von anderen beobachtet werden. Mechanistische Sicht des Lebens Wenn wir auf die Ebene von Leben und Geist aufsteigen, lässt uns die Vorstellung von Ursache im Stich, und wir brauchen Vorstellungen aus einer anderen Denkkategorie. Die Handlungsweise lebender Organismen, die im Hinblick auf eine Zielsetzung begonnen und geplant werden, sind völlig anders als eine verursachte Handlung. Die Themenstellung unserer Untersuchung erfordert daher die Vorstellungen von „Ziel“ und „Zweck“, die von innen her wirken, im Gegensatz zu der Vorstellung von „Ursache“, die außerhalb der Wirkung liegt und von außen her wirkt. Zweifellos gibt es Aspekte der Aktivitäten lebender Organismen, die diese mit anderen Naturobjekten teilen. Bei der Beobachtung dieser Aspekte wür-den sehr wohl die Konzeptionen der Physik und Chemie benötigt, aber das Verhalten der Organismen ist im wesentlichen erblich und kann in den Begriffen der Molekularphysik nicht zureichend erklärt werden. Al-lerdings ist die Konzeption des Mechanismus auf das Leben angewendet worden, und wir müssen sehen, wie weit dieser Versuch erfolgreich war. Unglücklicherweise bin ich kein Biologe und muss mich um Unterstützung an die Biologen selbst wenden. Nachdem er uns erläutert hat, dass der Hauptunterschied zwischen einem lebenden Organismus und einer Maschine darin besteht, dass sich ersterer selbst versorgt und selbst vermehrt, fährt J. S. Haldane fort: „Es ist also offensichtlich, dass wir zwar in einem lebenden Körper viele Phänomene finden, die, solange wir nicht genauer hinsehen, zufrieden stellend als physikalische und chemische Mechanismen interpretiert werden können, es aber neben ihnen andere Phänomene gibt, (z. B. Selbsterhaltung und Vermehrung), für die die Möglichkeit einer solchen Interpretation nicht gegeben ist. Dann nehmen die Mechanisten an, die körperlichen Mechanismen seien so konstruiert, dass sie sich selbst erhalten, reparieren und reproduzieren. In dem langen Prozess der natürlichen Auslese haben sich, so erklären sie. Mechanismen dieser Art allmählich entwickelt. Wir wollen diese Hypothese einmal untersuchen. Wenn wir ein Ereignis in mechanischen Begriffen ausdrücken, dann drücken wir es als notwendiges Ergebnis bestimmter einfacher Eigenschaften einzelner Teile aus, die bei dem Ereignis zusammenwirken. Das Wesentliche an der Erklärung oder Wiedergabe des Ereignisses liegt darin, dass wir nach angemessenen Untersuchungen angenommen haben, die an dem Ereignis beteiligten Teile hätten bestimmte einfache und definitive Eigenschaften, so dass sie immer unter denselben Voraussetzungen ebenso reagierten. Denn eine mechanische Erklärung der rea-gierenden Teile muss zunächst gegeben werden. Solange nicht ein Arrangement von Teilen mit definitiven Eigenschaften aufgeführt wird, ist es sinnlos, von einer mechanischen Erklärung zu sprechen. Die Existenz eines sich selbst reproduzierenden oder sich selbst erhaltenden Mechanismus zu postulieren bedeutet somit, etwas zu postulieren, dem kein Sinn beigemessen werden kann. Zwar werden von Physiologen manchmal sinnlose Begriffe verwendet, aber es gibt keinen so absolut sinnlosen wie den Ausdruck „Reproduktionsmechanismus“. Jeder Mechanismus, der im Elternorganismus vorhanden sein mag, fehlt im Reproduktionsprozess völlig und muss sich selbst in jeder Generation rekonstituieren, da der Elternorganismus aus nur einem winzigen Quäntchen seines eigenen Körpers reproduziert wird. Es kann keinen Reproduktionsmechanismus geben. Die Idee eines Mechanismus, der seine eigene Struktur erhält oder reproduziert, ist ein Widerspruch in sich. Ein Mechanismus, der sich selbst reproduziert, wäre ein Mechanismus ohne Teile und somit kein Mechanismus.“ Leben ist also ein einzigartiges Phänomen, und die Konzeption des Mechanismus ist für seine Analyse unangemessen. Seine „tatsächliche Ganzheit“, um einen Ausdruck von Driesch – einem weiteren hervorragenden Biologen – zu verwenden, ist eine Art Einheit, die, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, auch eine Vielfalt ist. In all den zweckmäßigen Prozessen des Wachstums und der Anpassung an seine Umgebung, ob diese Anpassung nun durch die Bildung neuer oder die Modifizierung alter Gewohnheiten zustandekommt, hat es einen Werdegang, der im Falle einer Maschine undenkbar ist. Und das Vorhandensein eines Werdegangs bedeutet, dass die Ursachen seiner Aktivitäten nicht anders erklärt werden können als in Beziehung zu einer fernen Vergangenheit, deren Ursprung darum in einer spirituellen Realität gesucht werden muss, die sich zwar in der Analyse räumlicher Erfahrung offenbart, aber nicht dadurch zu erfassen ist. Es will aber scheinen, dass Leben der Routine physikalischer und chemischer Prozesse zugrundeliegt und vorausgeht, die als eine Art festgelegten Verhaltens angesehen werden müssen, das sich im Laufe einer langen Evolution herausgebildet hat. Darüber hinaus bringt die Anwendung der mechanistischen Vorstellungen auf das Leben die Wissenschaft in Konflikt mit ihrem eigenen objektiven Forschungsprinzip. An dieser Stelle möchte ich einen Abschnitt von Wil-bon Carr zitieren, der diesen Konflikt sehr pointiert zum Ausdruck gebracht hat: „Wenn der Intellekt ein Produkt der Evolution ist, dann ist die ganze mechanistische Auffassung von der Natur und dem Ursprung des Lebens absurd, und das Prinzip, das die Wissenschaft angenommen hat, muss eindeutig revidiert werden. Wir brauchen es nur auszudruücken, um den inneren Widerspruch zu sehen. Wie kann der Intellekt, eine Modalität, die Realität zu erfassen, selbst eine Evolution von etwas sein, das nur als Abstraktion dieser Erfassungsmodalität existiert, die der Intellekt ist? Wenn der Intellekt eine Evolution des Lebens ist, dann muss die Vorstellung von dem Leben, das den Intellekt als eine Erfassungsmodalität für die Realität entwickeln kann, die Vorstellung von einer konkreteren Ak-tivität als einer abstrakten mechanischen Bewegung sein, die der Intellekt sich durch die Analyse ihres verstandenen Inhalts unterbreitet. Wenn dann der Intellekt dennoch ein Evolutionsprodukt des Lebens sein sollte, ist er gegenüber demjenigen, das ihn hervorgebracht hat, nicht absolut, sondern relativ: wie kann dann die Wissenschaft in einem solchen Fall den subjektiven Aspekt des Wissenden ausschließen und auf der objektiven Darstellung als Absolutem aufbauen? Die biologischen Wissenschaften brauchen eindeutig eine Revision des wissenschaftlichen Prinzips.“ Existenz als psychische Aktivität in der Zeit Ich möchte jetzt versuchen, auf einem anderen Wege zum Primat des Lebens und Denkens zu gelangen und uns in unserer Untersuchung der Erfahrung einen Schritt weiterbringen. Dies wird auf das Primat des Le-bens zusätzlich Licht werfen und uns auch Einsicht in die Natur des Le-bens als psychische Aktivität geben. Wir haben gesehen, dass Professor Whitehead das Universum nicht als etwas Statisches beschreibt, sondern als Struktur von Ereignissen, die den Charakter eines beständigen, kreativen Flusses hat. Diese Eigenschaft des Vorbeigleitens der Natur in der Zeit ist vielleicht der bedeutendste Aspekt der Erfahrung, den der Qur’an besonders betont und der, wie ich hoffe, Ihnen im folgenden aufzeigen zu können, den besten Hinweis auf das letztendliche Wesen der Realität gibt. Auf einige der Verse, auf die es hier ankommt (Sure 3:188, 2:164; 24:44) habe ich bereits Ihre Aufmerksamkeit gelenkt. Angesichts der Wichtigkeit des Themas möchte ich hier noch einige hinzufügen: „Wahrlich, im Wechsel von Nacht und Tag und in allem, das Allah in den Himmeln und auf Erden erschaffen, sind Zeichen für die Gottesfürchtigen.“ (Sure 10:6). „Und Er ist es, der die Nacht und den Tag gemacht hat, einander folgend, für denjenigen, der eingedenk oder dankbar sein will.“ (Sure 25:63). „Hast du nicht gesehen, dass Allah die Nacht in den Tag übergehen lässt und den Tag übergehen lässt in die Nacht, und dass Er die Sonne und den Mond dienstbar gemacht, so dass jeder seine Bahn läuft zu ei-nem bestimmten Ziel?…“ (Sure 31:28). „…Er faltet die Nacht über den Tag und faltet den Tag über die Nacht…“ (Sure 39:7). „…und Sein ist der Wechsel von Nacht und Tag…“ (Sure 23:82). Es gibt noch einen weiteren Satz Verse, die, indem sie auf die Relativität unserer Zeitrechnung hinweisen, die Möglichkeit unbekannter Bewusstseinsebenen andeuten; aber ich will mich mit meiner Erörterung des bekannten und dennoch äußerst bedeutsamen Aspekts der Erfahrung zufrieden geben, auf die in den oben angegebenen Versen Bezug genommen wird. Unter den Vertretern des zeitgenössischen Denkens ist Bergson der einzige Denker, der eine gründliche Studie des Phänomens der Fortdauer in der Zeit durchgeführt hat. Ich werde Ihnen zuerst kurz seine Ansicht über die Fortdauer erläutern und dann die Unzulänglichkeit seiner Analyse herausstellen, um die Implikationen einer vollständigeren Betrachtung des Zeitaspektes der Existenz darzulegen. Vor uns liegt das ontologische Problem, wie das letztendliche Wesen der Existenz zu definieren ist. Die Tatsache, dass das Universum in der Zeit existiert, lässt keinen Zweifel offen. Dennoch ist es möglich, bezüglich seiner Existenz skeptisch zu sein, da es außerhalb unserer selbst liegt. Um die Bedeutung des Fortbestehens in der Zeit vollständig zu verstehen, müssen wir in der Lage sein, einen bevorzugten Fall der Existenz zu untersuchen, der absolut unbestreitbar ist und uns darüber hinaus eine direkte Vision der Dauer zusichert. Nun ist aber meine Wahrnehmung der Dinge, die mir gegenübergestellt sind, oberflächlich und äußerlich; aber meine Wahrnehmung meines eigenen Selbst ist innerlich, intim und gründlich. Es folgt also daher, dass bewusste Erfahrung jener bevorzugte Fall von Existenz ist, bei dem wir uns in absolutem Kontakt mit der Realität befinden, und eine Analyse dieses bevorzugten Falles wird wahrscheinlich eine Lichtflut auf den letztendlichen Sinn der Existenz werfen. Was finde ich, wenn ich meinen Blick auf meine eigene bewusste Er-fahrung richte? Mit den Worten Bergsons gehe ich von einem Zustand in den anderen über. Ich bin warm oder kalt. Ich bin froh oder traurig. Ich arbeite oder ich tue nichts, ich schaue das an, was um mich herum ist, oder ich denke an etwas anderes. Wahrnehmungen, Gefühle, Willensäußerungen, Ideen – das sind die Veränderungen, in die meine Existenz aufgeteilt ist und ihr reihum Farbe verleihen. Ich verändere mich also unaufhörlich. Somit ist also in meinem inneren Leben nichts Statisches; alles ist eine ständige Beweglichkeit, ein unaufhörlicher Fluss von Zuständen, ein dauerndes Dahinfließen, bei dem es weder einen Halt noch einen Ruheplatz gibt. Konstante Veränderung jedoch ist undenkbar ohne Zeit. Analog zu unserer inneren Erfahrung bedeutet bewusste Existenz also Leben in der Zeit. Empfängliches und wirksames Selbst Eine gründlichere Einsicht in das Wesen der bewussten Erfahrung of-fenbart jedoch, dass sich das Selbst in seinem inneren Leben vom Zentrum nach außen bewegt. Es hat sozusagen zwei Seiten, die man als empfänglich bzw. wirksam bezeichnen kann. Auf seiner wirksamen Seite tritt es mit allem in Beziehung, was wir die Welt des Raumes nennen. Das wirksame Selbst ist das Subjekt der Assoziationspsychologie – das praktische Selbst des Alltagslebens in seinem Handeln mit der äußeren Ordnung der Dinge, die unsere vorübergehenden Bewusstseinszustände bestimmen und diesen Zuständen ihren eigenen räumlichen Zug der gegenseitigen Isolation aufprägen. Das Selbst lebt hier sozusagen außerhalb seiner selbst und enthüllt sich, während es seine Einheit als Gesamtheit darstellt, als nichts weiter als eine Serie spezifischer und somit zählbarer Zustände. Die Zeit, in der das wirksame Selbst lebt, ist somit die Zeit, die wir als lang oder kurz kennzeichnen. Sie ist kaum vom Raum unterscheidbar. Wir können sie nur als gerade Linie wahrnehmen, die aus räumlichen Punkten besteht, die ebenso äußerlich zueinander sind wie Etappen einer Reise. Aber nach Bergson ist die Zeit so betrachtet keine wirkliche Zeit. Eine Existenz in verräumlichter Zeit ist unechte Existenz. Eine tiefere Analyse der bewussten Erfahrung zeigt uns das, was ich als die empfängliche Seite des Selbst bezeichnet habe. Wenn wir, wie es die augenblickliche Situation erfordert, in der äußeren Ordnung der Din-ge aufgehen, ist es äußerst schwierig, einen Blick auf das empfängliche Selbst zu erhaschen. In unserem ständigen Streben nach äußeren Dingen weben wir eine Art Schleier um das empfängliche Selbst, das uns dadurch völlig fremd wird. Nur in Augenblicken tiefer Meditation, wenn das wirksame Selbst in einem Schwebezustand ist, versinken wir in unser tiefes Selbst und erreichen das innere Zentrum der Erfahrung. Im Lebensprozess dieses tieferen Ego verschmelzen die Bewusstseinszustände ineinander. Die Einheit des empfänglichen Ego ist wie die Einheit des Keimes, in dem die Erfahrung seiner individuellen Vorfahren existiert, aber nicht als Pluralität, sondern als eine Einheit, in der jede einzelne Erfahrung das Ganze durchdringt. Es gibt keine nummerische Verschiedenheit der Zustände in der Gesamtheit des Ego, dessen Vielfalt der Elemente – anders als beim wirksamen Selbst – völlig qualitativ ist. Es gibt Veränderung und Bewegung, aber diese Veränderung und Bewegung ist unteilbar: ihre Elemente durchdringen sich gegenseitig und sind von ih-ren Eigenschaften her ganz unperiodisch. Es scheint, dass die Zeit des empfänglichen Selbst ein einziges „Jetzt“ ist, das das wirksame Selbst in eine Serie von „Jetzts“ wie Perlen auf einer Schnur zertrümmert. Hier gibt es also reine Dauer, unverfälscht durch den Raum. Der Qur’an spielt mit seiner charakteristischen Einfachheit auf die periodischen und nichtperiodischen Aspekte der Zeit an, und zwar in den folgenden Versen: „Und vertraue auf den Lebendigen, der nicht stirbt, und erhebe Seine Herrlichkeit in Lobpreisung … Er, der die Himmel und die Erde und was zwischen beiden ist in sechs Zeiten erschuf; dann setzte Er sich auf den Thron. Der Gnadenreiche ,..“ (Sure 25:60). „Wir haben ein jegliches Ding nach Maß geschaffen, und Unser Befehl wird (vollzogen) mit einem einzigen (Wort) gleich dem Blinzeln des Auges.“ (Sure 54:50). Wenn wir die in der Schöpfung verkörperte Bewegung von außen betrachten, d. h. wenn wir sie intellektuell begreifen, dann ist es ein Pro-zess, der Tausende von Jahren dauert: denn in der Terminologie des Qur’an, wie der des Alten Testaments, ist ein Tag vor Gott, wie 1000 Jahre. Von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen ist der Schöpfungsprozess, der Jahrtausende dauert, eine einzige unteilbare Handlung, schnell „wie das Blinzeln des Auges“. Es ist jedoch unmöglich, die inne-re Erfahrung der reinen Dauer mit Worten auszudrücken, denn die Sprache ist der ablaufenden Zeit unseres alltäglichen wirksamen Selbst entsprechend gebildet. Dies kann vielleicht durch eine Veranschaulichung weiter erläutert werden. Wissenschaftlich physikalisch gesehen ist die Ursache für die Empfindung Rot eine Wellenbewegung mit einer Frequenz von 400 Milliarden pro Sekunde. Wollte man diese hohe Frequenz von außen beobachten und mit einer Rate von 2000 pro Sekunde zählen – was als Grenzwert für die Wahrnehmbarkeit von Licht angenommen wird – dann würde es mehr als 6000 Jahre dauern, bis die Zählung abgeschlossen wäre. Dennoch hält man in einem einzigen augenblicklichen Wahrnehmungsakt die Frequenz einer Wellenbewegung fest, die praktisch unzählbar ist. Auf diese Weise transformiert der geistige Akt Abfolge in Dauer. Das empfindsame Selbst korrigiert also mehr oder weniger das wirksame Selbst insofern, als es alle „Hier“ und „jetzt“ zu einer Synthese zusammenbringt – den kleinen Wechsel von Raum und Zeit, der für das wirksame Selbst unerlässlich ist, zu der kohärenten Ganzheit der Persönlichkeit. Reine Zeit, wie sie sich durch eine tiefere Analyse unserer bewussten Erfahrung offenbart, ist also nicht eine Reihe separater, reversibler Momente: sie ist ein organisches Ganzes, in dem die Vergangenheit nicht zurückgelassen wird, sondern sich mit der Gegenwart mitbewegt und darin handelt: und die Zukunft wird nicht als etwas gesehen, was bevorsteht und noch zu durchqueren ist, sie wird nur in dem Sinne gesehen, dass sie in ihrem Wesen als offene Möglichkeit gegenwärtig ist. Zeit als organisches Ganzes betrachtet ist das, was der Qur’an als „Taqdir“ oder Schicksal bezeichnet – ein Wort, das sowohl innerhalb wie auch außerhalb der islamischen Welt oft missverstanden wurde. Schicksal ist Zeit, die als vor der Enthüllung ihrer Möglichkeiten betrachtet wird. Es ist Zeit, die vom Netz der kausalen Abfolge befreit wurde – der Diagrammhaftigkeit, die das logische Verständnis ihr aufzwingt. Mit einem Wort gesagt: es ist Zeit, wie man sie fühlt, nicht wie man sie denkt und berechnet. Wenn Sie mich fragen, warum Kaiser Homayoun und Schah Tahmasp von Persien Zeitgenossen waren, kann ich Ihnen keine kausale Erklärung dafür geben. Die einzige Antwort, die es darauf geben könnte, ist die, dass das Wesen der Realität so ist, dass unter ihren unendlichen Möglichkeiten des Werdens die beiden Möglichkeiten, die als Leben von Humay-oun und Schah Tahmasp bekannt sind, zusammen verwirklicht werden sollten. Als Schicksal betrachtet bildet die Zeit das Wesen der Dinge selbst. Wie es im Qur’an heißt: „Gott erschuf alle Dinge und teilte jedem seine Bestimmung zu.“ ...
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