Heutige Meinungsbilder stehen für einen Kampf bzw. einen Austausch der Kulturen. In diesem Zusammenhang sollte man wissen, wie alt dieses Thema ist und was damit erreicht bzw. was damit bestätigt und was damit zerstört werden soll. Die Kulturgeschichte ist so alt wie die Menschheit selbst. Der Kulturbegriff ist vielleicht das einzige Mittel zur Unterscheidung zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen, denn im Gegensatz zu anderen Geschöpfen kennzeichnen den Menschen eine bestimmte Mentalität, Gewohnheiten, Verantwortung usw. Mit der Pluralität des Menschen geht auch die Pluralität der Kulturen einher, so dass wir in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Kulturen vorfinden. Wenn diese Verschiedenheit auf einem vernünftigen, logischen und den natürlichen menschlichen Bedürfnissen entsprechenden Prinzip basiert, dann kann sie keineswegs schlecht sein, sondern im Gegenteil positiv und letztlich unvermeidbar. Die Unterschiede an sich implizieren folglich niemals Konfrontation. Vielmehr gilt es, die kulturellen Unterschiede als Ergebnisse einer Reihe von Ursachen zu verstehen, die die Mannigfaltigkeit des Wesens, des Bewusstseins und der Bedürfnisse des Menschen sowie die Verschiedenheit der Umgebung, Gesetze usw. reflektieren, mit denen der Mensch als individuelles und als soziales Wesen konfrontiert ist. Immer wieder gab es und gibt es Menschen, die diese natürlichen Unterschiede aus persönlichem Interesse und Vorteilsdenken im Sinne von Auseinandersetzung und Konfrontation interpretieren. Aber im Gegensatz dazu gab und gibt es auch immer wieder kluge Köpfe, die dank ihrer tiefgründigen Kenntnis vom Menschen und seiner Gesellschaft diesem Konfrontationsgedanken mit einer Betonung des Gedankens einer friedlichen Koexistenz begegnen. Die Vielfalt der Kulturen ist in diesem Sinne keineswegs eine Gefahr, sondern vielmehr eine Bereicherung für die Menschen.
Farabi und der Austausch der Kulturen
Farabi ist einer der wenigen großen islamischen Denker und Philosophen, der sich mit diesem Thema befasst hat. Er hat die Gesellschaftsstruktur und die Stellung des Menschen im gesellschaftlichen Gefüge rational analysiert und die Gründe dargelegt, die zum Untergang bzw. zum Erblühen einer Gesellschaft führen. Gleichermaßen hat er auch die Ursachen des Kampfes der Kulturen wie auch der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen beschrieben. Die Analyse Farabis ist nicht auf islamische oder religiöse Kulturen beschränkt, sondern er beschäftigt sich mit allen Kulturen, die Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft geworden sind. Diese Denkstruktur hat Farabi dem Qur’an entnommen. Er gebraucht zur Darstellung seiner Gedanken zum Kampf der Kulturen bzw. ihrer friedlichen Koexistenz qur’anische Begriffe wie “ummat”, der dem soziologischen Begriff der Gesellschaft entspricht, und “mellat”, den er im Sinne von “farhang”, d. h. Kultur gebraucht.
Dies verdeutlicht also, dass dieses Thema in der qur’anischen Denkstruktur verwurzelt ist. Mit seiner allumfassenden Kenntnis vom Menschen hat Gott die Vielzahl und Vielfalt der Kulturen als natürlich und unvermeidbar angesehen und deshalb die Grundlagen für einen Austausch der Kulturen in der Religion vorgesehen und die Notwendigkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Völker und Kulturen betont. Nun stellt sich die Frage, woraus die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Kulturen resultiert und worauf sie basiert. In diesem Zusammenhang können wir einige Elemente nennen:
- “Die genetische Veranlagung des Menschen, die sein Wesen bestimmt, und die äußeren Zwänge der Gesellschaft, die das Verhalten des Menschen besonders in den ersten Lebensjahren entscheidend beeinflussen.
- “Die Gesamtheit der allgemeinen Verhaltensweisen, die für eine Gesellschaft insgesamt gültig ist und die in jeder Gesellschaft beobachtbar ist.
- “Die Akzeptanz für möglichst einfache Lösungen – ein Verhalten, das bei den meisten Menschen und in allen Gesellschaften zu beobachten ist. Der Mensch ist unabhängig von einer bestimmten Epoche oder Gesellschaft ein bequemes Lebewesen; das liegt im Wesen des Menschen, und er versucht immer, seine Ziele auf einfachstem Weg zu erreichen.
Farabi ist der Meinung, dass die genannten Gründe für die Verschiedenheit von Gesellschaften ursächlich sind, denn die individuell unterschiedlichen Veranlagungen des Menschen und die vom sozialen Umfeld beeinflussten primären Interessen resultieren in unterschiedlichen Verhaltensweisen, Aktionen und Reaktionen und diese natürlichen Verhältnisse formen wiederum unterschiedliche Gesellschaften und Kulturen. Beispielsweise die Sprache, die Vorstellungskraft oder auch die Mentalität des Menschen gewinnen im Laufe der Zeit eine bestimmte Struktur. Wenn diese Unterschiede zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften sich weiter entwickeln, stellen wir ein zunehmendes Bedürfnis nach Dialog, Austausch, Kooperation usw. fest. Eine konstruktive Kommunikation ist die Voraussetzung für die Entwicklung und den Fortschritt in jedem Bereich der Existenz.
Für Farabi ist die Gesellschaft (ummat) das Ergebnis von Interessen, Veranlagungen, Mentalität, Glaube, Kreativität, Kunst und Technologie. Entsprechend kategorisiert er die Gesellschaften ihrer unterschiedlichen Gestalt nach wie folgt:
- “Gesellschaften, die unter geistiger Armut leiden und aufgrund ihres Mangels an Bildung und Denkvermögen kulturell arm sind.
- “Gesellschaften, die eine große Kultur hätten zustande bringen können, die jedoch aufgrund falscher Methodik und polemischer Argumentation nur eine mangelhafte und schwache Kultur erreicht haben.
- “Gesellschaften, die auf Rationalität und logischer Argumentation basieren und deren geistige Anstrengungen in einer fortschrittlichen Kultur resultieren.
Wir wollen nun untersuchen, ob wir mit der Kategorisierung der Gesellschaften nach Farabi Austausch, Einfluss, und Verständnis zwischen den verschiedenen Gesellschaften ermöglichen, rechtfertigen oder sogar als nützlich ansehen können. Eine logische und vernünftige Untersuchung dieses Themas setzt voraus, dass wir ein reales Bild vom Einfluss der Kulturen aufeinander haben. Eine Möglichkeit besteht z. B. darin, dass eine kulturreiche Gesellschaft ihre kulturellen Leistungen in eine Gesellschaft mit schwach ausgebildeter Kultur abgibt. Farabi bezeichnet dies als eine oberflächliche Kulturübertragung in eine schwache Gesellschaft mit defizitärer Kultur oder anders ausgedrückt als Übertragung des kulturellen Überbaus in eine kulturlose Gesellschaft. Dies ist gleich, wo es vonstatten geht, ein destruktives Ereignis und verhindert den Fortschritt in dieser Gesellschaft. Wenn die verantwortlichen und bewussten Menschen in einer solchen Gesellschaft nicht achtsam sind, besteht die Gefahr, dass diese Gesellschaft ihre Identität einbüßt und zu einer Konsumgesellschaft statt zu einer gesunden kreativen Gesellschaft wird. In einem solchen Fall findet nicht nur kein Dialog statt, vielmehr werden die Voraussetzungen für einen solchen Dialog vernichtet. Dies wird für beide Seiten letztlich negativ sein, weil eine Gesellschaft unterentwickelt bleibt, während die andere produktiv und fortschrittlich voranschreitet, und ein solches Verhältnis kann kein gerechter Mensch jemals gutheißen.
Eine andere Form des Austauschs kann darin bestehen, dass eine produktive Gesellschaft geistige, kulturelle, technische und ethnische Errungenschaften in ein kulturelles und technisches Schwellenland exportiert, In diesem Fall sind innerhalb beider Gesellschaften unterschiedliche Formen von Auseinandersetzungen zu erwarten, und der Dialog zwischen ihnen wird sicherlich belastet sein. Die Akzeptanz für den rationalen Unter- und Überbau der entwicklungsbedürftigen Gesellschaft muss von der fortgeschrittenen Gesellschaft vorbereitet werden, da andernfalls unerwartete Veränderungen eintreten können. Beim dritten Fall werden nur entartete Produkte einer Gesellschaft in eine Gesellschaft mit relativ intakter Kultur übertragen. Dies ist der schlimmste Fall, der heute überall auf der Welt zu beobachten ist. Mittels einer solchen kulturellen und geistigen Einflussnahme sollen andere Kulturen und Gesellschaften verunsichert und deren Identitäten zerstört werden, denn eine identitätslose Gesellschaft ist beliebig formbar.
Kultureller Austausch: wann und wie?
Hier stellt sich die Frage, wann und unter welchen Umständen überhaupt ein konstruktiver Gedankenaustausch zwischen Kulturen stattfinden kann und welche Argumente die Kritiker eines kulturellen Dialogs vorzubringen haben. Ist die Konfrontation der Kulturen das Schicksal von Kulturen und Zivilisationen, oder gibt es in der Zukunft Hoffnung auf einen vernünftigen Dialog? Die Meinungsvielfalt zu diesem Thema ist beträchtlich. Die Geschehnisse im vergangenen Jahrhundert haben viele Meinungen und Theorien zu diesem Thema entstehen lassen. Faktoren wie Erfolge und Misserfolge, Macht, Entwicklung, Fortschritt, Stagnation und viele andere haben das Schicksal einiger Gesellschaften entscheidend beeinflusst. Deshalb haben die führenden und mächtigen Gesellschaften in autoritärer Manier einige Theorien entwickelt, mit denen sie nahezu jede Stimme, die sich für Dialog, friedliche Koexistenz und Gedankenaustausch einsetzt, mit Schwäche gleichgesetzt haben. Im Gegensatz dazu ist die Einladung zum Dialog und Austausch vielmehr ein Zeichen von Stärke und Dominanz der Vernunft, während die Kritik an einem vernünftigen Dialog eine gewisse Schwäche offenbart. Dies ist ein bitteres Geschehnis, das ich wie auch die Politisierung dieses Themas und unverantwortliche Äußerungen mancher Politiker in diesem Zusammenhang als Hindernis für einen konstruktiven Dialog ansehe.
Die Politik hat eine eigene Kultur und Dynamik und erfolgsorientierte Prinzipien, und die Logik eines Politikers ist nicht gleich der Logik eines Menschen, der nach Wahrheit strebt und diese akzeptiert, egal wo er sie findet. Diese Kultur der Wahrheitsfindung ist den tiefsinnigen Menschen eigen, die nicht bereit sind, die Wahrheit zu opfern. Das ist die Kultur von der Imam 3Ali (a.s.) sagt: “Wenn du die Wahrheit von einem Heuchler hörst, akzeptiere sie, und wenn du die Unwahrheit von einem Muslim und Gläubigen hörst, dann lehne sie ab!” Das Verständnis für diese Kultur hat eine eigenen Logik und Dynamik. Auf jeden Fall gilt es, eine geistige Voraussetzung für einen Dialog zu schaffen.
Die Interpretation des Kampfes der Kulturen
In diesem Abschnitt will ich mich mit Theorien und Meinungen beschäftigen, die einen möglichen Dialog der Kulturen und Zivilisationen ausschließen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hat die westliche Welt nicht aufgeweckt, sondern sie vielmehr in ihrer Überzeugung gestärkt, dass der westlichen Kultur eine weltweite Dimension gebührt. Fukuyamas These vom Ende der Geschichte wurde oft kritisiert, bestätigt letztlich aber die Dominanz der westlichen Kultur. Kaum war diese Stimme etwas verklungen, kam Huntington mit seinem “Clash of Civilizations”. Ich bin der Ansicht, dass man sich zu diesen Theorien äussern und sie beurteilen kann, wenn man deren inhärente Absichten und Wurzeln erforscht und analysiert. Es stellt sich nun die Frage, ob die Botschaften und die Gedanken von Fukuyama und Huntington gleich sind, ungeachtet eventueller Zusammenhänge zwischen beiden. Der Schrei Fukuyamas ist meiner Meinung nach ein Sieg des kapitalistischen Westens, der auf Arroganz und Dominanz basiert. Der Westen hat die einzige mit ihm konkurrierende Zivilisation als destruktiv wahrgenommen, und Fukuyama hat den Fehler begangen, die kommunistische Zivilisation als alleinige Konkurrenz für den Westen zu sehen, so dass er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen historischen Neubeginn mit nur einer dominanten Macht konstatierte. Danach kam Huntington mit seiner Theorie, dass es durchaus noch weitere Kulturen und Zivilisationen gibt, die mit der westlichen Zivilisationen konkurrieren, wobei er die islamische Zivilisation besonders hervorhob. Seiner Meinung nach muss man nicht abwarten, bis die Geschichte das Schicksal der Zivilisation bestimmt, sondern man muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass durch eine Konfrontation der Kulturen das gewünschte Ergebnis erreichbar wird. Beide Theorien haben einen Punkt gemeinsam, und zwar den Gedanken, dass die westliche Kultur nach dem Untergang der Sowjetunion für die gesamte Welt maßgebend ist und diese dominieren sollte. Diese These ist im Gegensatz zu vielen anderen westlichen Zivilisations- und Kulturtheorien sehr einfach, und deshalb sollte man Huntington und insbesondere Fukuyama dankbar sein.
Die Theorie Huntingtons hat vier wesentliche Elemente:
- “Die Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen und Zivilisationen in der Geschichte nicht vergessend, denkt er in der Gegenwart und sieht die Probleme der Menschen in der Gegenwart.
- “Seine Theorie gründet auf anderen Denkern wie z. B. Hegel und Darwin. Für Hegel resultiert eine Konfrontation von verschiedenen Schichten in der Herrschaft einer neuen Schicht, die über die absolute Macht verfügen kann. Die Darwinsche Evolutionstheorie geht von einem Sieg der Stärkeren über die Schwächeren aus. Auch Toynbee spricht in den Kapiteln 11 und 12 seines 1947 erschienenen Buches “Der Gang der Weltgeschichte. Aufstieg und Verfall der Kulturen” von einer Konfrontation zwischen islamischer und westlicher Zivilisation.
- “Der Untergang der Sowjetunion als wichtigstes Ereignis der jüngsten Vergangenheit.
- “Das westliche auf Dominanz und Hegemonie basierende Denken, das in solchen Theorien zum Ausdruck kommt.
Huntington ist der Meinung, dass sich die Kulturen verschiedener Völker und Regierungen gegenüberstehen und diese Konfrontation letztlich eine Konfrontation der Zivilisationen, d. h. der entwickelten Kulturen, bewirkt. In diesem Sinne ist der Zusammenprall der westlichen, japanischen, indischen, slawischen, konfuzianischen, islamischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Zivilisationen ein unvermeidbares Geschehen. Er sieht eine Konfrontationen der westlichen mit der konfuzianischen Zivilisation voraus und stellt die Gemeinsamkeiten der konfuzianischen und der islamischen Zivilisation dar, die in einer Kooperation beider resultieren. Huntington sieht diese Konfrontation und deshalb die Einigkeit der westlichen Welt und die Kooperation mit Japan und Russland als unvermeidlich an, denn die militärische Macht der islamischen und konfuzianischen Zivilisationen muß geschwächt werden, damit die Überlegenheit des Westens über den Osten gesichert wird. Entsprechend müssen die Institutionen, die der westlichen Zivilisationen dienlich sind, weiter unterstützt werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt in Huntingtons Theorie ist seine These, dass die Konfrontation der Kulturen und Zivilisationen zwar unvermeidbar ist, aber letztlich keine einzelne Zivilisation allein dominant und bestimmend sein wird, sondern die Zivilisationen müssen sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie miteinander leben müssen.
Kritik an der Theorie vom Zusammenprall der Kulturen
Jacques Delors, der frühere Präsident der Europäischen Kommission, bestätigt, dass aufgrund der kulturellen Unterschiede Konflikte in der Zukunft programmiert sind, und der Westen deshalb notwendigerweise die anderen Religionen, Philosophien und Zivilisationen besser kennen lernen muß, damit die Gemeinsamkeiten erkannt werden können.
Kischur, der stellvertretende Aussenminister Singapurs, kritisiert Huntingtons Theorie von einer Kooperation der islamischen und konfuzianischen Völker einerseits und der westlichen Welt andererseits, da sie eine Feindschaft zwischen beiden Lagern propagiere. Breszinsky, ehemaliger nationaler Sicherheitsberater in der Carter-Regierung, beunruhigt hingegen die Uneinigkeit und Spaltung innerhalb der westlichen Kultur, und er schätzt den unkontrollierbaren Säkularismus des Westens als gefährlicher ein als eine Konfrontation mit anderen Zivilisationen. Für Dr. Muhammad Emareh bringt die Theorie Huntingtons die Identität und Realität in der westlichen Welt zum Ausdruck, wenngleich nicht die gesamte westliche Welt so denkt. Fuad Ajami, Professor an der John-Hopkins-Universität lehnt Huntingtons Theorie ab, weil seiner Ansicht nach die Regierungen nicht der Zivilisation unterworfen sind, sondern vielmehr die Kulturen verwalten. Jean Kirkpatrick, die frühere US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, kritisierte Huntingtons Theorie in einem Artikel in Foreign Affairs vom Oktober 1983, und Huntington hat seine Kritiker im gleichen Heft aufgefordert, seine Theorie durch eine andere Theorie zu ersetzen, mit der die neue Lage nach dem Ende des Kalten Krieges angemessen erklärt werden kann, denn wenn es keinen “clash of civilisations” gibt, was dann?
Wohin führt diese Geschichte?
Nachdem wir verschiedene Sichtweisen zur Zivilisation kennengelernt haben, ist eine theoretische Diskussion notwendig. Die Zivilisation im Sinne einer entwickelten Kultur hat ihre Stellung gefunden, und es besteht keine Notwendigkeit, diese zu überdenken, sondern die der Zivilisationen eigenen Werte und Ideen sollen verwirklicht werden. Die internationale Akzeptanz der Gesellschaften lässt einen Dialog untereinander und miteinander nicht notwendig erscheinen; aber die Kultur ist im Gegenteil dazu in Bewegung begriffen, ist flexibel und formbar und als Prozess zu verstehen. Deshalb ist im Bereich der Kulturen ein Dialog und Meinungsaustausch logisch, vorstellbar und erreichbar. Die Kultur ist ein allgemeiner Begriff, der eine ethische, soziale, ökonomische und politische Dimension einschließt, und es sind diese kulturellen Dimensionen, die den Prozess des Dialogs zuweilen gefährden können. Deshalb müssen die Gesellschaften Vorkehrungen treffen, die eine Politisierung der Kulturen verhindern und einen Austausch in einer von Verständnis geprägten Atmosphäre ermöglichen.
Ich bin der Meinung, dass die internationale Gemeinschaft insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges eine besondere Reife erreicht hat, in der sie im Gegensatz zur Vergangenheit der Politik und den Politikern die Wiederholung einer solchen Konfrontation nicht erlaubt. Die Wissenschaft dank ihrer Objektivität und die internationale Gemeinschaft dank ihrer Reife lassen nicht zu, dass Theorien wie die von Huntington die friedliche Koexistenz der Kulturen gefährden. Vielmehr schaffen sie die Voraussetzung dafür, dass Gedanken und Ideen das Schicksal der Menschheit bestimmen und die ausbeuterische und kolonialistische Politik ein Ende findet. Es ist ein Merkmal unserer Epoche, dass für den Dialog Grenzen, Nationen und Rassen unbedeutend sind, und dies bezeugt wiederum die Reife der internationalen Gemeinschaft, die keine Akzeptanz hat für eine Einteilung der Welt in erste, zweite oder dritte Welt. Die Kategorisierung der Welt kann nur auf kulturellen Wurzeln und nicht auf politischer oder militärischer Stärke basieren, soll sie unstrittig sein. Scheinbar haben die verschiedenen Kulturen eine geistige Ebene erreicht, auf der sie keinen Sinn in einer Konfrontation sehen, sondern vielmehr an Einstimmigkeit, Toleranz und Kooperation interessiert sind, und es erscheint unverantwortlich, die Zivilisationen und die internationale Gemeinschaft durch eine Politisierung zu gefährden. Deshalb sollte unsere Epoche als Auseinandersetzung der Zivilisationen mit der Politik gekennzeichnet werden, denn die Zivilisationen sind beständig und stabil und verstärken ihre Wurzeln immerzu, während die Politik und ihre Vertreter sehr unbeständig sind und sich jeden Tag neu und anders äußern. Folglich wird eine Vertiefung und Entwicklung der wissenschaftlichen und kulturellen Erkenntnis das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft erweitern und sie geistig reifen lassen, so dass die Auseinandersetzung zwischen Politik und Zivilisationen eine Entwicklung der letzteren bewirkt und zu einer intensivierten Kooperation zugunsten einer friedlichen Koexistenz der Zivilisationen beiträgt. Nach Einstein soll das Universum eine harmonische Gestalt haben, und die Verwirklichung solcher Ideen setzt eine tiefe und objektive Kenntnis vom Universum voraus, damit die hoffnungsvollen Strahlen derartiger Ideen auf der Makroebene der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen werden können. Dieses Ziel einer harmonischen und menschlichen internationalen Gemeinschaft können wir erreichen, wenn wir uns um unsere geistige und kulturelle Nahrung und die kulturelle Entwicklung der Gesellschaften ebenso kümmern wie um unseren Lebensunterhalt. Wissen ist die Voraussetzung und der Maßstab für Toleranz und Verständnis bzw. Auseinandersetzung und Intoleranz in den verschiedenen Gesellschaften, d. h. je größer das Wissen ist, desto mehr Verständnis und Toleranz finden wir vor und je geringer die Kenntnis ist, desto ausgeprägter sind Oberflächlichkeit und Intoleranz. Deshalb ist es eine der größten Ungerechtigkeiten, den Menschen Bildung und Erziehung vorzuenthalten. Mangelhafte Kenntnis resultiert in ökonomischer, sozialer und moralischer Armut. Imam Sadiq (der Friede sei mit ihm) sagt: “Ein rationaler Mensch wird sich niemals von Illusionen bestimmen lassen.”
Hier stellt sich die Frage, ob mit dieser Verbreitung, Rechtfertigung und wissenschaftlichen Theoretisierung der Konfrontation nicht der Traum verbunden ist, eine größere Beute bzw. größeren Nutzen zu erlangen? Einige Politiker und Regierungen haben durchaus festgestellt, dass jede Bewegung, die die Kenntnis und das Bewusstsein der Menschheit erweitert, entweder sogleich vernichtet oder zumindest der Kontrolle der Machthaber unterworfen werden soll, womit diese ihre politische Macht stabilisieren, denn sie haben den aufklärerischen Charakter von Wissen und Bewusstsein erkannt und haben deshalb kein Interesse daran, dass sich ein solcher Gedanke in der internationalen Gemeinschaft verbreitet. So erscheint die Behauptung, wonach Armut auf kultureller Armut basiert, durchaus richtig. Alle Bemühungen des Menschen zum Fortschritt – auch die Religiösität – beruhen letztlich auf Kenntnis, und so kommen einige Denker durchaus zu der Ansicht, dass am Ende des 20. Jahrhunderts das Bedürfnis der Menschen nach spirituellen Inhalten nicht geleugnet werden kann, denn die Mehrheit der Menschen ist von der Technologie und dem Modernismus so gefangen, dass ihre ideelle Freiheit begrenzt ist und sie mit der Betonung der materiellen Bedürfnisse ihre spirituellen Neigungen vernachlässigen. Bekanntlich hat der Mensch aber nicht nur materielle Bedürfnisse, und dieses spirituelle Vakuum verursacht letztlich Unzufriedenheit. Diese Spiritualität und das damit verbundene Bedürfnis des Menschen nach Vervollkommnung, das oftmals als Fanatismus, Fundamentalismus oder Rückschritt verstanden wird, verbindet Religionen wie Christentum, Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus und Islam. Wenn auf dieser Ebene ein Austausch der Kulturen stattfindet, wird die Spiritualität zunehmen, ohne dass eine Kultur dominiert, und diese Art des Dialogs findet überall statt.
Der Dialog und die heutige Welt
Japan und das japanische Volk sehen sich seit einigen Jahrzehnten mit dem Dialog der Kulturen konfrontiert, ohne dass die japanische Kultur jemals gefährdet gewesen wäre. Heute sind die Japaner mehr denn je ihrer Kultur verbunden, aber sie sind im Vergleich zu früheren Kulturen weitaus aktiver, fähiger und erfahrener, weil sie durch diesen Dialog viel gelernt haben. Oder ist es der Sowjetunion z. B. innerhalb von 70 Jahren gelungen, dass ein Turkmene sich in einen Sowjetrussen verwandelt? Ist der Inder weniger Inder, weil er mit anderen Kulturen in Berührung kam? Nein, er betont heute mehr denn je seine indische Identität. Deshalb sollte niemand einen Dialog der Kulturen fürchten oder sogar Ängste dagegen schüren. Kultur und Zivilisation sind ein Resultat menschlicher Reife, und Kampf und Konfrontation verhindern eine geistige Reife und sind letztlich Ausdruck kultureller Armut. Afghanistan z. B. ist ein Land, in dem zwei Jahrzehnte lang Krieg herrschte, in dem die Menschen jeglichen Wohlstand und selbst elementare menschliche, materielle und wirtschaftliche Notwendigkeiten, soziale Sicherheit, Bildung usw. missen mussten. Was kann die internationale Gemeinschaft von diesem Volk erwarten? Wer ist verantwortlich für die katastrophale Lage des afghanischen Volkes, und wer ist verantwortlich für die Taten einiger weniger? Kann man den Glauben, mit dem das Volk sich nicht einmal auseinandersetzen konnte, dafür verantwortlich machen? Warum sollte man den Islam dafür verantwortlich machen? Es ist die Armut, die den Menschen schadet.
Die heutige Welt ist kleiner geworden als wir denken, und kein Land kann sich sicher fühlen, solange Menschen auf der Welt unter allen Dimensionen der Armut leiden. Im Islam gilt der Maßstab, dass man dem anderen das wünschen sollte, was man für sich selbst wünscht, und das man dem anderen das nicht wünschen sollte, was man für sich selbst nicht wünscht. Wenn wir dieses Prinzip bewahren und realisieren, hat die Konfrontationen keinen Platz.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog – Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 1 • Heft 2 • 2. Halbjahr 2002