Nationalismus im Islam

  In diesem Aufsatz befassen wir uns in gewisser Weise mit der Frage, ob der religiöse Glaube mit der stetigen Weiterentwicklung des irdischen Lebens vereinbar ist oder nicht.   Jeder denkende Mensch, der vorurteilsfrei im Geschichtsbuch der Zivilisationen blättert, begegnet in verschiedenen Epochen einer Blütezeit der islamischen Zivilisation. Mit seiner Erkenntnis von der außergewöhnlichen potentiellen Stärke des Islams im Hinblick auf die Neugestaltung einer blühenden und fortschreitenden Zivilisation wird er sich mit der Frage konfrontiert sehen, welche Gründe das heutige Schicksal der islamischen Zivilisation verursacht haben.   Warum haben sich die islamischen Gesellschaften von ihrer führenden Stellung verabschiedet und sich anderen Gesellschaftsordnungen unterworfen und sind in sich zerfallen?   Die Denker in den jeweiligen Gesellschaften haben auf verschiedenen Gründen für diesen Niedergang der islamischen Zivilisation beharrt:   Die Perser führen dies auf den Traditionalismus der Araber und der Omayyaden zurück.   Die Araber behaupten, dass die Iraner sich in die Verwaltung der islamischen Gemeinschaft eingemischt hätten. Die Osmanen beschuldigten die westliche Welt der List und Tücke. Die Intellektuellen sehen zum Teil im Traditionalismus oder im Modernismus die Ursache für diese Misere. Manche schreiben den Vorfahren die Schuld zu, und andere wiederum machen die Zeitgenossen dafür verantwortlich.   Mit den schönen Worten Imam Alis gesprochen: “Ein unwissender Mensch wird sich von der Übertreibung gefangen nehmen lassen oder im Feuer der Ermangelung brennen.”   Unwissenheit, Fehlinterpretation und ein falsches Verständnis im Hinblick auf die Ursachen des Untergangs der islamischen Zivilisation haben dazu geführt, dass die Führer dieser Gesellschaften und Zivilisation unüberlegte Taten begingen. Die seitens der Türken vertretene Interpretation des Untergangs des Osmanischen Reichs als Resultat der westlichen Intrigen und Tücken hat zu militärischen Konflikten mit dem Westen geführt. Auf diese Weise haben die Türken nicht nur ihr Nationalvermögen vergeudet sondern auch militärische Niederlagen erlitten. Wo sie sich ihre Unfähigkeit in der Führung ihrer Gesellschaft nicht eingestehen konnten, haben sie den Islam dafür verantwortlich gemacht. Die Folgen dieses sinnlosen Feldzuges waren letztlich nur Zweifel und Unsicherheit in Bezug auf die Fähigkeiten des Islams zur Verwaltung der Gesellschaft.   Aber damit nicht genug. Sie sind sogar so weit gegangen, den Westen immer mehr in den Mittelpunkt zu stellen und Schritt für Schritt die Trennung von Religion und Politik voranzutreiben; und unter dem Einfluss des säkularistischen Denkens haben sie ihre Traditionen, Kultur, Schrift und ihre Lebensweise als solche gemäß dem westlichen Vorbild umgestaltet.   Niemand ist einem innergesellschaftlichen Dialog und dem internationalen Austausch der modernen Fortschritte abgeneigt, aber was in der Vergangenheit durch Fehlinterpretation der Möglichkeiten des Islams einerseits und der unwissenden Unterwerfung der Führer der islamischen Gesellschaften anderseits geschah, war nicht vereinbar mit einem konstruktiven Dialog und Gedankenaustausch auf der Grundlage der Vernunft. Die Verbreitung von Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf die metaphysischen Ideen und Denkweisen, und die unfaire Gegenüberstellung von irdischer Glückseligkeit und religiösem Glauben sind nicht vergleichbar mit der Art und Weise, wie der Islam der imperialistischen Ideologie begegnet und jeglicher Verletzung der menschlichen Würde und Identität Widerstand leistet.   Die Denker und tiefgründigen Wissenden sind sich nicht erst seit heute der Notwendigkeit eines interkulturellen Dialogs bewusst – dieser wurde bereits in früheren Zeiten erkannt und gefördert. Diesbezüglich wird man in den Geboten und Verboten des religiösen Denkens weder Engstirnigkeit noch Dogmatismus oder Aberglauben finden.   Seyyed jamaluddin spricht in seinem berühmten Werk “Die Wahrheit über die naturalistische Religion” von drei Vorschriften, die zur Glückseligkeit und zur Gründung einer Zivilisation von Nationen führen:  

  1.    Überwindung jeglichen Aberglaubens im tiefsten Herzen und in der Erinnerung des Menschen
  2.    Würdigung des Menschen und Stärkung seines Selbstbewusstseins und seiner Persönlichkeit
  3.    Begründung des religiösen Denkens und Durchführung eigener Denkprozesse, anstatt diese nachzuahmen und zu übernehmen.