Die Philosophie der Erschaffung des Menschen bei Rumi

  In diesem Aufsatz möchten wir etwas über die Philosophie der Erschaffung des Menschen aus “maulawitischer” Sicht, also aus der Sicht des Mystikers Maulana jalaluddin Rumi erfahren.   Wenn Philosophen die Existenz in eine erstgradige und eine allgemeine Form aufteilen, unterscheiden sie zunächst zwei Arten der Existenz: das wirkliche, ursprüngliche Sein und das Schattendasein. Niemand zweifelt daran, dass die Existenz Gottes wirkliches und ursprüngliches Sein ist und dass im Hinblick auf Gott kein Erlischen vorstellbar ist.   Die islamischen Mystiker, die Sufis, sind der Ansicht, dass die einzige Existenz, die nicht erlischen kann, die Existenz Gottes sei. Alle anderen Existenzen außer der Seinen seien schattenhaft und abhängig und deshalb vergänglich. Einige Gnostiker (cUrafa’) haben dazu angemerkt, es sei zwar richtig, dass nur Gottes Existenz wirklich und ursprünglich sei, dies aber nicht bedeute, dass die Existenz anderer Dinge oder des Menschen keinerlei Verbindung zur Ewigkeit habe. Sie haben daher alles in ihrer Macht stehende unternommen, um klar aufzuzeigen, dass auch der Mensch in seiner Rolle unvergänglich ist.   Wir begegnen daher dieser Betrachtung des Menschen in vielen Verszeilen des Mathnawi des berühmten Mystikers jalaluddin “al-Maulawi”. Maulana will in diesen Verszeilen sagen: Es ist richtig, dass die wirkliche Existenz auf den über alles erhabenen Gott beschränkt ist. Jedoch hat Dieser den Menschen ausgezeichnet, indem Er ihm eine Seite dieses wirklichen Seins geschenkt hat. Auf diese Weise schwindet das Schattendasein des Menschen im wirklichen Sein Gottes und verliert sich – gleich dem Kupfer in einer chemischen Analyse.   Der Mensch ist imstande, die geistigen Stufen zu erklimmen und die Gnade zu erlangen und die Auswirkungen seines Tuns, die kein Auge je gesehen hat, zu sehen. Damit nähert er sich einer Existenz, die unvergänglich ist, und löst sich in ihr auf. Er wird dann so wie diese und bleibt für die Ewigkeit. Anders ausgedrückt, erlischt er in Gott, um so ewig und immerwährend zu sein. Das ist das herrschende Gesetz der Elemente im Universum, in dem jedes Element zu seinem Urquell und Ursprung zurückkehrt. Aber auch die Wirklichkeit des Menschen – hiermit ist die Seele gemeint – besitzt einen Ursprung, und dieser Ursprung ist Gott. Er selbst sagt:    

وَنَفَخْتُ فِيهِ مِنْ رُوحِي.

  “Und Ich hauchte ihm ein von Meinem Geist.” [Sure al-Hidjr (15), Vers 29]   Wohin also soll die Seele zurückkehren, außer zu ihrem eigentlichen Ursprung und Urquell?   “O du Mensch, du mühst dich ab für deinen Herrn, so wirst du Ihm begegnen.” “Höret! Zu Gott kehren die Dinge zurück.” “Wir gehören zu Gott, und zu ihm kehren wir zurück.” “Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Antlitz.” “Er ist mit euch, wo immer ihr auch seid.” “Und Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader.”   So gibt es noch viele Verse, die den gleichen Inhalt tragen, und all diese Verse enthüllen eine einzige Wirklichkeit, nämlich dass die gesamte lebendige Menschenwirklichkeit, in all ihren Facetten und mit all ihren Elementen, zu ihren Ursprüngen zurückkehrt.   Was also geschieht mit der Seele? Bleibt sie nach der Trennung einsam und verlassen zurück? Nein, gewiss nicht. Die mystischen und gnostischen Schriften bezeichnen diese Rückkehr als “Erlischen”. Nach Ansicht der Gnostiker ist das Erlischen der Weg in die Ewigkeit. Maulana kompensiert diese Vorstellung in einigen Versen, indem er sinngemäß sagt:   “Ich entstarb in der leblosen Materie und wurde zu einer wachsenden, organischen Substanz. Auch in der wachsenden Substanz entstarb ich und verwandelte mich in ein lebendiges Wesen. Doch auch in dem lebendigen Wesen entstarb ich und wurde ein Mensch – wovor also sollte ich mich fürchten? Wann wurde ich etwa durch den Tod geringer? Und ich werde alsbald noch einmal dem Menschsein entsterben, so dass ich die Flügel und Beine der Engel tragen werde. Anschließend dann werde ich auch vom Engelsein befreit und zu dem werden, was keine Vorstellung zu bestimmen vermag, denn ich werde zu Nichts werden, und das Nichts ist wie etwas ohne jeglichen Halt, das mir singt: ‚Wahrlich, wir kehren heim zu Ihm.’”   Selbstverständlich sind solche Begriffe, die aus Gnostik und Mystik stammen, nicht ohne weiteres zu begreifen. Sie können nicht durch einfaches und alltägliches Verstehen aufgedeckt werden. Um solche Grade des Erkennens erreichen zu können, bedarf es vor allem der Auslöschung von Zeit, Ort, Vielheit, Anzahl und jeder Logik des Körperlichen.   Die Gnostiker betonen, dass der Mensch sich in grenzenloser Gegenwart Gottes wiederfindet, wenn er allen Stufen entflieht und sich von allen Umständen befreit und sich der Welt des Entstehens und Vergehens entledigt. Seine Existenz bleibt nicht länger mit einer Ursache verbunden sondern wird göttlich und erlischt in ihrem Dies- und Jenseits. Das ist es, was Maulana jalaluddin “Wiedergeburt” nennt, was nicht mehr bedeutet als den Tod des Wesens und die Ewigkeit in Gott, die er so beschreibt:   “Wenn das Individuum wiedergeboren wird, steht Gott über der Trennung von Ursachen und Gründen. In dieser Phase geht alles zugrunde – außer Seinem Antlitz.”   In diesem Moment, den wir “Wiedergeburt” nennen, wird der Mensch nicht völlig ausgelöscht. Auch wenn er in der göttlichen Essenz erlischt, so gleicht dies dem Erlischen des Kerzenlichts in der Helligkeit des Tages. Er dauert fort, solange sein Wesen fortdauert, doch er erlischt, indem er seine Attribute in den Attributen der absoluten Wahrheit auslöscht wie das Licht der Kerze im Angesicht des Sonnenscheins. Sie sind vergangen, und doch existieren sie. Ihr Wesen ist nach wie vor da, in dem Sinne, dass ein Wattebausch von ihrer Flamme ergriffen und verbrannt würde, falls man ihn über sie hielte. Aber sie ist dennoch erloschen, da ihr Licht im Schein der Sonne erloschen ist. Das Erlischen des Menschen basiert auf einem gewissen Grad an Wachsamkeit dessen, der in Gott erlischt.   Wer also im Hinblick auf sein eigenes Ziel erlischt, der dauert im Ziel Gottes weiter, denn die persönlichen Ziele sind vergänglich, und das Ziel Gottes ist unvergänglich und ewig. Ist man folglich mit dem eigenen Ziel verbunden, bleibt man verbunden mit dem Vergehen und Erlischen. Wer jedoch ganz dem Ziel Gottes ergeben ist, ist mit der Ewigkeit verbunden. Diese Angelegenheit ist jedoch voll und ganz geistiger Natur und hat überhaupt nichts mit örtlicher Nähe und Entfernung zu tun.   Eine Himmelfahrt, wie wir sie nennen, also ein “Aufsteigen”, geht nicht immer nach oben, im Sinne der Richtung, die örtlich gesehen über uns liegt. Deshalb hat der Prophet Muhammad auch die Verborgenheit des Propheten Jonas im Walfisch als eine Himmelfahrt bezeichnet. Auch Maulana zieht diese Überlieferung heran und sagt: “Der Gesandte Gottes sprach: ‚Wahrlich, meine Himmelfahrt war nicht vortrefflicher als die Himmelfahrt des Yunus Ibn Matta (Jonas), nur weil meine im Himmel und seine unter der Erde geschah’, weil – so Maulana – die Nähe zur absoluten Wahrheit unabhängig von der Richtung ist.”   Die Nähe ist nicht das “nach oben” oder “nach unten Gehen”. Die Nähe zur absoluten Wahrheit bedeutet viel mehr die Befreiung aus dem Gefängnis der Existenz und das Gelangen zu dem Erlischen und dem Nichts. Die Welt, die Maulana hier als die “Welt des Nichts” bezeichnet, ist die Welt des Verborgenen und die Welt des Logos, jene Welt, die jenseits der empirischen Welt, d.h. des Kosmischen, liegt.   Die Erlösung liegt also in diesem Herzen, in dem das Licht lebt. Dieses ist die eigentliche Substanz der menschlichen Existenz. Maulana sagt:   “Du hast geglaubt, dass dein Herz dies blutdurchtränkte ist? So ist kein Weg, als dass du dich von den Leuten mit Herz getrennt hast. Kannst du dir gar selbst eingestehen, dass jenes, das der Milch und dem Honig Liebe schenkt, ein Herz ist?”   Die Güte von Milch und Honig spiegelt sich im Herzen. Wenn also irgendwo Genuss ist, entspringt dieser dem Herzen. So ist denn das Herz Substanz und die Welt Akzidens. Wie aber sollte die Akzidens des Herzens das Ziel des Herzens sein?